Das Wesen der Zwangspsychiatrie und ihre gesellschaftliche Funktion
von Alice Halmi (2006)

 

Von der Psychiatrie wird behauptet und es wird weitläufig auch so angenommen, dass Verhalten, welches als psychiatrische Symptome an Menschen gedeutet wird, individuelle Ursachen biologisch-medizinischer, genetischer oder zumindest psychologischer Natur habe und einer medizinischen Behandlung bedürfe. Dem möchte ich eine andere Sicht entgegensetzen: (Zwangs-)Psychiatrie und Psychiatriekritik ist eine im hohen Maße politische und soziologische und eben keine medizinische Frage.

Psychiaterlnnen, Krankenhauspersonal, Betreuerlnnen und Gesetzgeberlnnen behaupten, zum Wohle der Betroffenen zu handeln und Hilfe zu leisten. Im Gegensatz zur ärztlichen Behandlung nicht psychiatrisch diagnostizierter Menschen, die der Einwilligung der Patientlnnen bedarf, erfolgen ,Behandlung', ,Unterbringung' und Betreuung' jedoch ohne Einwilligung der Betroffenen und damit ohne Berücksichtigung dessen, ob diese selber der Ansicht sind, es sei zu ihrem Wohle. Das gilt sowohl für die moderne' Psychiatrie, als auch für die Psychiatrie in der Zeit der Nationalsozialisten und ihrer Vorgänger. Sogar der Mord an Kranken oder angeblich Kranken, fälschlicherweise als 'Euthanasie' bezeichnet, wurde mit dem Wohl der Patienten' begründet und als heilender Eingriff' deklariert (vgl. unten).
Aufgrund des Fehlens der Einwilligung eines/r Patientln' in psychiatrische Zwangsbehandlung ist diese in Wirklichkeit keine Hilfeleistung und auch da das Konzept der psychischen Krankheit' und die Unterscheidung von Menschen in ,Normale und Gesunde' und Anormale und Kranke' nichts weiter als eine soziale Konstrukt ist, kann von Medizin weder im diagnostischen noch im therapeutischen Sinne die Rede sein.


Die heutige Zwangspsschiatrie in Deutschland


Im Folgenden soll eine Darstellung der heutigen psychiatrischen Praxis in ihrer gewaltförmigen Ausprägung (in Deutschland) gegeben werden: Das grundlegende Element der Zwangspsychiatrie ist die psychiatrische Diagnose' (wie z.B. ,Schizophrenie') bzw. die von den Betroffenen ungewünschte Etikettierung als geistig krank' und die damit einhergehende Beurteilung als "nicht einsichtsfähige" und "nicht geschäftsfähige" Person, die für sich keine Verantwortung mehr übernehmen könne. Die psychiatrische ,Diagnose' ist die Voraussetzung für die Ausübung von Zwangsmaßnahmen. Um psychiatrischen Zwang, Entmündigung und Verfolgung handelt es sich, wenn ein Mensch in einer psychiatrischen Anstalt gegen seinen erklärten Willen, mit fehlender ,Krankheitseinsicht' und fehlender Einwilligung in eine ,Behandlung', eingesperrt und 'diagnostiziert' wird und an ihm zwangsweise körperliche Eingriffe mit psychiatrischen Drogen (Psychopharmaka) und/oder Elektroschocks verübt werden. Psychiatrischer Zwang besteht auch aus Fesselung ans Krankenhausbett (zynischerweise ,Fixierung' genannt) und der Nötigung zu Beschäftigungstherapien. Ein weiterer wichtiger Eckpfeiler psychiatrischer Zwangsmaßnahmen ist die Einrichtung einer amtlichen ,Betreuung', d.h. Vormundschaft, wie sie bis 1991 auch genannt wurde, gegen den Willen der ,Betreuten'. Die Betreuerlnnen' haben dann wiederum die Möglichkeit, Zwang auf die Betroffenen auszuüben. Einmal diagnostiziert' und in das psychiatrisch-staatliche System geraten, erfahren viele Betroffene jahrelange Verfolgung durch Psychiaterlnnen, Gesundheitsämter oder sozialpsychiatrische Institutionen. Langfristige Folgen der Psychiatrisierung können außerdem u.a. irreversible körperliche Spätschäden und Beeinträchtigungen des Geistes bzw. Intellektes durch Psychopharmaka und Elektroschocks, lebenslange gesellschaftliche Stigmatisierung, seelisch-emotionales Leiden von Beeinträchtigung des Selbstbewusstseins bis hin zur Selbsttötung und ein sozialer und ökonomischer ,Abstieg' (Verlust gesellschaftlicher Anerkennung, des Bekanntenkreises, des Arbeitsplatzes und des Wohnsitzes) sowie erneute Psychiatrieaufenthalte (,Drehtüreffekt', ,Hospitalisierung') sein.

Psychopharmaka dienen nicht, wie suggeriert, der Lösung von sozialen Problemen, die in manchen Fällen ungewöhnlichem oder normwidrigem Verhalten zugrunde liegen könnten, sondern sind Drogen, die massiv körperlich, emotional und geistig dämpfen (Neuroleptika) oder auch aufput-schend (einige Antidepressiva des Typs Serotonin- Wieder-Aufnahmehemmer) oder sedierend wirken (Tranquilizer). Trotz der Verdrängung der Kritik durch den herrschenden Diskurs seitens der Ärzteschaft, Pharmaindustrie und anderen, gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zum Nachweis der schädlichen Wirkungen von Psychopharmaka und Elektroschocks.1 Eine Psychiatriekritik, die sich für Menschenrechte einsetzt, muss sich aber in erster Linie gegen die Menschenrechtsverletzungen der Psychiatrie wenden und nicht gegen Psychopharmaka im Allgemeinen. Denn: Auf der einen Seite soll es das Recht eines jeden Menschen sein, Drogen zu nehmen, wenn dies freiwillig geschieht, und auf der anderen Seite spielt es weniger eine Rolle, welche Stoffe einem Menschen gewaltsam verabreicht werden, sondern es ist zu kritisieren, wenn sie gewaltsam verabreicht werden. Schon der Einstich einer Nadel gegen den Willen eines anderen ist Körperverletzung. Der Elektroschock, heutzutage beschönigend von der Psychiatrie "Elektrokrampftherapie" (EKT) genannt, erzeugt innere Kopfverletzungen. Es wird ein künstlicher epileptischer Anfall im Gehirn (Gehirnkrämpfe) hervorgerufen, die Teile des Gehirns zerstören bzw. verändern. Gehirnblutungen, kognitive Störungen und Gedächtnisverluste, intellektuelle und emotionale Trübungen etc. sind die Folgen. Die Betroffenen verlassen die sogenannte 'Behandlung' verängstigt und apathisch.

Durch die Zwangspsychiatrie werden die Grund- und Menschenrechte der als ,psychisch krank' diagnostizierten Personen erheblich eingeschränkt bzw. außer Kraft gesetzt: In der BRD wird Unterbringung und Zwangsbehandlung über die PsychKG ("psychisch Kranken Gesetze") der Bundesländer und Unter-bringungsgesetze legitimiert bzw. bei Bestehen einer amtlichen Betreuung nach dem Betreuungsgesetz veranlasst. Über eine psychiatrische Diagnose werden Menschen in zwei Klassen' geteilt, wobei die psychiatrisch diagnostizierten Menschen sonderbehandelt' werden. Die oben beschriebene psychia-trische Sonderbehandlung betrifft das Außerkraftsetzen fast sämtlicher Grund-rechte, die in der Verfassung der BRD beschrieben sind verstößt gegen die allgemeinen Menschenrechte der Vereinten Nationen, wie vor allem gegen das Recht auf Menschenwürde, gegen das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person, das Recht auf Gleichheit und der Freiheit vor Diskriminierung und das Recht auf Meinungs- und Glaubensfreiheit.

Der übliche Rechtfertigungsgrund für Zwangsbehandlung nach den PsychKGs ist die Annahme, es läge die Situation einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung' des/der Betroffenen vor. Zu beachten ist hierbei, dass ein Freiheitsentzug vorgenommen wird als eine vorbeugende Maßnahme, mit der Begründung, der/die Betroffene könne in Zukunft gewalttätig werden gegenüber anderen oder sich selber verletzen oder töten, ohne dass eine solche Tat bereits begangen wurde. Darüber hinaus erfahren Menschen Freiheitsentzug und Körperverletzung durch die Psychiatrie auch nach einem Suizidversuch, ungeachtet dessen, dass Selbsttötung rechtlich keinen Straftatbestand darstellt.

Ein besonderes Problem stellt darüber hinaus die psychiatrische Forensik dar: Psychiatrisch diagnostizierte und für schuldunfähig erklärte Menschen, die eine strafrechtlich relevante Tat begangen haben, erfahren ebenso eine Sonderbehandlung: Sie werden nicht, wie andere sogenannte ,Straftäterlnnen', durch das Einsperren in ein gewöhnliches' Gefängnis ihrer Freiheit beraubt, sondern der Freiheitsentzug geht noch darüber hinaus: Auch im Maßregelvollzug werden zwangsweise Psychopharmaka verabreicht und sogenannte andere Therapien auferzwungen. Des weiteren ist in der Praxis das Strafmaß für psychiatrisch Entmündigte vergleichsweise höher und die Haftzeiten wesentlich länger als für normale ,Straftäterlnnen'. Die Haftzeit in der Forensik ist abhängig von den in der Regel nur alle zwei Jahre neu aufgestellten 'Gutachten'. Ich möchte hier aber darauf hinweisen, dass das Strafsystem (Strafrecht und Strafvollzug) und die Psychiatrie beides Elemente ein- und desselben Herrschaftssystems sind, dass sich bei beiden ähnliche Muster finden und beide in weiten Teilen den selben Interessen und Zielen dienen. Ebenso wie die Psychiatrie dient das Strafsystem nicht, wie behauptet wird, der Vermeidung von Gewalttaten und einem friedlichen Zusammenleben von Menschen, sondern produziert im Gegenteil sogar Gewalt.2


Die gesellschaftliche Funktion der Psychiatrie


Die soziale Funktion der Psychiatrie ist im Kern immer dieselbe und die Motive sind zeitgeschichtlich weitgehend unabhängig. Sie tauchen lediglich im historischen Kontext in Variationen auf, ebenso wie die Praxis der Psychiatrie im Laufe der Zeit etwas variiert.

NS-Psychiatrie und Kontinuitäten: Der psychiatrische Blick, mit dem Menschen zu Untermenschen' gemacht werden, ist damals wie heute die Grundlage für die Grausamkeiten, die an Menschen begangen werden, die - je nach epochenabhängigem Sprachgebrauch - als ,Irre', Lebensunwerte' oder ,psychisch Kranke' bezeichnet werden. So war die psychiatrische Sichtweise auch Voraussetzung für die nationalsozialistischen Verbrechen am sogenannten ,lebensunwerten Leben', von Psychiatrieinsassen, ,Kranken', sogenannten ,Behinderten' oder ,Asozialen'. Sie führten von Zwangssterilisation bis zur Ermordung in psychiatrischen Gaskammern, Verhungern-Lassen oder Ermordung durch Giftspritzen und bildeten ihrerseits eine Voraussetzung für die Ermordung von Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma und anderen als missliebig erachteten Menschen in den Gaskammern der Vernichtungslager.3 Der psychiatrische Blick ist jedoch ebenso wenig mit den NS-Täterinnen entstanden, wie er mit ihnen gegangen wäre. Ein Zitat von Thomas Szasz in diesem Zusammenhang aus "Interview with Thomas Szasz" in The New Physician, 1969, welches gleichzeitig einen Hinweis auf die Funktion der Psychiatrie gibt: ,,,Schizophrenie' ist ein strategisches Etikett, wie es Jude' im Nazi-Deutschland war. Wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muß man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbst rechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung. Dies ist der Punkt, um den es bei all den häßlichen psychiatrischen Vokabeln geht: sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für ,Müll'; sie bedeuten nimm ihn weg', schaff ihn mir aus den Augen', etc. Dies bedeutete das Wort ,Jude' in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer bestimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete ,Ungeziefer', 'vergas es'. Ich fürchte, daß schizophren' und ,sozial kranke Persönlichkeit' und viele andere psychiatrisch diagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt bezeichnen; sie bedeuten ,menschlicher Abfall',,nimm ihn weg', ,schaff ihn mir aus den Augen'" 4

In ihrer 1920 veröffentlichten Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens", auf die sich später fast alle berufen, die sogenannte 'Geisteskranke' und andere für 'lebensunwert' befundene Menschen töten werden, rechtfertigten der Freiburger Professor für Psychiatrie und Facharzt für Neuropathologie Alfred Erich Hoche (1865-1935) und der Jurist Prof. Karl Binding (1841-1920) die Tötung von angeblich unheilbar Kranken auch gegen ihr Einverständnis. "Das Argument, daß unheilbar Kranke das Recht auf einen verhältnismäßig schmerzfreien Tod hätten, diente [..] dazu, den Mord an den als minderwertig geltenden Menschen zu rechtfertigen"5. Die Ermordung (angeblich) unheilbar Kranker sei nach Binding/Hoche "keine ,Tötungshandlung im Rechtssinne' ", sondern "in Wahrheit eine reine Heilbehandlung".6

Schon Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts, weit vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten, war die große Zeit so genannter rassentheoretischer, rassenhygienischer und eugenischer Ideen in Europa und auch in den USA, die den Weg zu den nationalsozialistischen Morden bereiteten. Eine tragende Rolle spielte dabei die Psychiatrie: Die Eugenik wurde in Deutschland "von akademischen Psychiatern getragen, die Medizin und Biologie studiert hatten und an staatlichen Heilanstalten und Universitätskliniken arbeiteten"7."Die Psychiater teilten die Ansichten ihrer Kollegen - Biologen, Genetzter und Anthropologen - bezüglich der Degenereichtest der unteren Gesellschaftsklassen" und darüber hinaus machten sie die Urteile ,Entartung' und ,Minderwertigkeit' zu "diagnostischen Begriffen"8.
Beteiligt waren dabei nicht etwa nur solche, die heute als ,Monster' einer längst beendeten dunklen Epoche der Menschheit gelten, sondern auch anerkannte Psychiater wie Emil Kraepelin (1856-1926), welcher heute - wie viele seiner ähnlich denkenden Kolleglnnen - immer noch in seiner Zunft und allgemein in der Gesellschaft hohes Ansehen genießt. Dieser verband den alten, aber neu konnotierten Psychopathiebegriff mit der Entartungstheorie' mit der Behauptung, dass "soziale Untauglichkeit und anlagebedingte psychopathische Minderwertigkeit" identisch seien und "letztere führe zur Entartung des Volkes, dessen drohendem Untergang mit rigiden Maßnahmen entgegenzuwirken wäre, nämlich durch Kasernierung der minderwertigen Persönlichkeiten und das Unschädlichmachen der psychopathisch Entarteten in Strafanstalten oder Irrenanstalten, wobei eine Sterilisierung nicht ausgeschlossen wurde"9.

Die früheren Verbrechen der Psychiatrie werden heutzutage meistenteils entweder einer längst abgeschlossenen Epoche der Geschichte zugeordnet oder noch immer nicht als Verbrechen verurteilt und die Täterinnen werden geschützt und verehrt. So genießt auch der deutsche Psychiater Karl Bonhoeffer (1868-1948) bis heute in weiten Teilen der Gesellschaft (und selbstverständlich innerhalb der Psychiatrie) hohes Ansehen. Zwar hat er an den NS-Morden selber nicht teilgenommen und diese angeblich auch abgelehnt, er trug jedoch als Richter am Erbobergesundheitsgericht die Verantwortung für die Durchführung zahlreicher Zwangssterilisationen und muss auch aufgrund seiner psychiatrischen Schriften (und seiner Integration ins NS-System) als Wegbereiter für die NS- Morde angesehen werden10.

Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit dem nach der Absetzung des NS-Regimes von 1945- 1949 fortbestehenden Massenmorden in psychiatrischen Anstalten durch verhungern lassen, welches über 20 000 Opfer produzierte, wie Heinz Faulstich in seiner Forschungsarbeit "Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949" belegt. Dies wird bis heute verschwiegen und Bemühungen, es zu thematisieren, werden unterbunden.11

Zwanqspsychiatrie als Folter: Zwangspsychiatrie entspricht den Kriterien und der Definition für Folter, welche in der sogenannten Antifolterkonvention' der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1984 (in Kraft getreten 1987) beschriebenen werden. Durch die Zwangspsychiatrie werden körperliche und seelische Schmerzen bzw. Leiden herbeigeführt: Neben den Körperverletzungen mittels Psychopharmaka und Elektroschocks fügen die Erfahrung von Entrechtung, Freiheitsberaubung, Gewalt und Ohnmacht, das Eingesperrtsein, die Fesselung, die Verhinderung eines selbstbestimmten Tagesablaufes, die Entmündigung durch einen Betreuer und die Ausgrenzung durch die sogenannte psychiatrische "Diagnose", das Absprechen von Vernunft und Urteilsfähigkeit und der damit verbundene soziale Abstieg den Betroffenen große Leiden zu. Darüber hinaus sind willkürliche Schikanen durch das Krankenhauspersonal wie Beleidigungen, Bloßstellen, Nicht-ernst-Nehmen, Sich-lustig-Machen und willkürliche Verbote gängige Praktiken in psychiatrischen Anstalten. Es herrscht ein großes Machtgefälle zwischen Krankenhauspersonal und Insassen, in dem die Machthaber in einem quasi rechtsfreien Raum agieren können, d.h. ohne (oder nur sehr schwer) für Verstöße gegen die (Menschen-)Rechte der Insassen zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Denn: Erstens wird 'Verrückten' nicht (oder weniger) geglaubt, wenn sie von erlittenen Demütigungen berichten und zweitens werden willkürliche und nicht nachvollziehbare Maßnahmen" wie Besuchsverbote, Einsperren in Isolierzimmer (auch im Gefängnis übliche Foltermethoden) oder Ausgangsverbote als therapeutische Maßnahmen dargestellt. Die Betroffenen werden eingeschüchtert, genötigt und gefügig gemacht. Ein weiteres Merkmal von Folter ist die Erwirkung eines Geständnisses bzw. einer Aussage. Auf die Zwangspsychiatrie übertragen ist dies die Forcierung von ,Krankheitseinsicht'. Das Ziel ist die widerstandslose 'Behandlungswilligkeit'. Gehirnwäsche mittels psychiatrischer Ideologie wird wie folgt praktiziert: Gestützt durch ihre Glaubwürdigkeit und Autorität in Gesellschaft und Wissenschaft und durch autoritätsgläubige und oft unwissende Angehörige, reden Psychiaterlnnen und Krankenhauspersonal auf die sogenannten "Patienten" ein, die sich, eingesperrt und mit Drogen benebelt und dazu noch möglicherweise in einer Lebenskrise steckend, in einer ohnmächtigen Lage befinden. Gebräuchlich angeführt wird dabei die Lüge, dass "Unbehandelte" ihr Leben lang chronisch krank bleiben. Bei den Betroffenen stellt sich Furcht vor lebenslanger Stigmatisierung und Ausgrenzung als 'psychisch Kranke', vor Lebensunfähigkeit, Wiederholung der erlittenen oder vor gar noch schlimmeren Qualen - zum Beispiel Verabreichung einer Depotspritze oder von Elektroschocks im Falle des Nichteinnehmens der Tabletten- und noch längerem Anstaltsaufenthalt ein.12 "Das Ende der Martern nur um den Preis sogenannter 'Krankheitseinsicht' führt in Verbindung mit falschen Hilfsversprechen zu einer breiten Akzeptanz individualisierter
Wahrnehmung der Unterdrückung. Gleichzeitig wird eine falsche Hoffnung auf Wiedererlangen der eigenen Würde durch Identifikation und vorauseilenden Gehorsam
gegenüber dem kolonialisierenden Apparat erzeugt"
13.

Diese Annahme psychiatrischer Ideologie durch die so Kolonialisierten ermöglicht es, die Gewalt zu verdecken und die Misshandlungen durch die Psychiatrie als medizinische Maßnahmen und als Hilfeleistung, Entmündigung als Betreuung, Schutz und Maßnahme zum angeblichen Wohle der Betroffenen darzustellen und ihre angebliche Notwendigkeit zu legitimieren. Dass die durch die Folter gebrochenen Personen nicht nur Krankheitseinsicht vorgeben, sondern am Ende auch glauben, "krank" zu sein, ist die effektivste Voraussetzung dafür, diese langfristig zu kontrollieren, die Fortführung der sogenannten "Behandlung" außerhalb einer psychiatrischen Anstalt zu garantieren und sie dem System anzupassen. Und schließlich erfolgt dies alles mit staatlicher Legitimation bzw. sogar aufgrund von staatlicher Anordnung.14

Psychiatrie als Ideologie und Praxis im Dienste sozialer Kontrolle und Herrschaft bei Ron Leifer: Auch der US - amerikanische Psychiatriekritiker und Psychiater Ron Leifer, Schüler von Thomas Szasz, geht von dem Bestehen einer psychiatrischen Ideologie aus, mit der soziale Kontrolle und Herrschaft verschleiert wird: "Das medizinische Modell gibt vor, wissenschaftlich zu sein, aber es funktioniert wie eine Ideologie". "Das soziale Interesse, welches durch das medizinische Modell bedient wird, ist das öffentliche Mandat für einen höheren Grad an sozialer Kontrolle als es über die Herrschaft des Gesetzes gewährleistet werden kann. Indem es bestimmtes Verhalten als geistige Krankheit etikettiert, (..) ermöglicht und rechtfertigt das medizinische Modell eine außergesetzliche, verdeckte Form von sozialer Kontrolle. (..) Im Lichte des medizinischen Modells erscheinen diese Menschenrechtsverletzungen als medizinische Behandlung und werden als solche gerechtfertigt". "Das medizinische Modell entwickelte sich als Ideologie in einem historischen und politischen Kontext", nämlich dem der europäischen Aufklärung.
Denn der moderne Staat einer aufgeklärten Gesellschaft, die sich für eine freie hält, kann es sich nicht mehr leisten, über Strafgesetze oder willkürliche Erlasse Menschen ihrer Freiheit zu berauben, die keine Straftat begangen haben, sondern sich nur ungewöhnlich verhalten bzw. denken oder stören.15

Psychiatriekritik bei Thomas Szasz und Michel Foucault: Der amerikanische Psychiater und Psychiatriekritiker Thomas Szasz (geb. 1920) verfechtet am eindeutigsten und radikalsten die These, dass es keine psychische Krankheiten gibt, und fordert vehement die Abschaffung jeglichen Zwangs durch die Psychiatrie, den er als 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit' ansieht. Dies bedeutet, dass für alle Menschen gleiche Rechte gelten sollen und dass ein Mensch immer für sich und seine Taten voll verantwortlich ist und dass folglich weder die Psychiatrie aufgrund einer Diagnose noch das Individuum selber durch eigene Krankheitszuschreibung diese Verantwortung aufheben kann. Szasz stellte "Analogien zwischen Hexenverfolgung bzw. Inquisition im Mittelalter und den medizinischverbrämten Misshandlungen" auf.16 Zu einer ähnlichen Analyse kommt auch der Philosoph und Soziologe Michel Foucault (1926-1984) in zahlreichen Publikationen und Äußerungen: Er entlarvt die Psychiatrie als ein Instrument der sozialen Kontrolle, als eines der modernen Überwachungs- und Strafsysteme neben herkömmlichen Gefängnissen, Schulen oder Kasernen. Insbesondere in "Wahnsinn und Gesellschaft" beschreibt er die Geschichte des ,Wahnsinns' und dem gesellschaftlichen Umgang damit. Er untersuchte, "wie die Irren erkannt, beiseite geschafft, aus der Gesellschaft ausgeschlossen, interniert und behandelt werden konnten; welche Institutionen dazu ausersehen waren, sie aufzunehmen und einzuschließen, manchmal sogar zu betreuen; welche Instanzen über ihre Verrücktheit entschieden und nach welchen Kriterien welche Methoden angewendet wurden, um sie zu zwingen, zu bestrafen oder zu heilen".17 Foucault kommt (ebenfalls) zu dem Schluss, dass der Wahnsinn' gewissermaßen ein gesellschaftlich-kulturelles Produkt ist. (Er sagt jedoch nicht, dass es keinen Wahnsinn' gäbe). In "Mikrophysik der Macht" äußert sich Foucault über Gemeinsamkeiten und Unterschiede seiner Erkenntnisse mit denen von Thomas Szasz: Das historisch und politisch wichtige an Szasz' Buch "Die Fabrikation des Wahnsinns" sei zu sagen, "die Praxis, mit der man bestimmte Leute ausfindig machte, mit der man sie verdächtigte, isolierte, verhörte, mit der man sie als Hexer diagnostizierte - diese Machttechnik, die in der Inquisition zur Anwendung kam, findet man transformiert in der psychiatrischen Praxis wieder. Der Irre ist nicht der Sohn des Hexers, sondern der Psychiater ist der Nachfahre des Inquisitors".18

"Szasz interessiert sich für die Erkennungs- und Vernehmungstechniken. Ich habe mich für die sozio- polizeilichen Isolierungstechniken interessiert."19 "Wir sind in einen Gesellschaftstyp eingetreten, in dem die Macht des Gesetzes dabei ist, zwar nicht zurückzugehen, aber sich in eine viel allgemeinere Macht zu integrieren, nämlich die der Norm (..). Anscheinend weil die Bestrafung eines Verbrechens keinen Sinn mehr hat, setzt man den Verbrecher immer mehr mit einem Kranken gleich", so Foucault, "sobald sich nun eine Normgesellschaft entwickelt, wird die Medizin (..) zur Königin der Wissenschaften. Szasz sagt darum, daß die Medizin die Religion des modernen Zeitalters ist. (...)."20

Zusammenfassung: Die psychiatrische Zwangsbehandlung und die Schaffung von Ausschlussgebieten durch Wegsperren in Institutionen' und durch soziale Ausgrenzung ist ein Instrument, um Menschen an die politisch, sozial und wirtschaftlich gewünschte Norm anzupassen, indem der Versuch unternommen wird, sie glauben zu lassen, es sei zu ihrem Wohle oder sie zumindest zu überwachen und unerwünschtes Verhalten einzudämmen bzw. missliebige Personen aus dem öffentlichen Leben fernzuhalten, um einen möglichst störungsfreien Ablauf zu gewährleisten.



1 Literaturhinweise: Breggin, Peter: Giftige Psychiatrie. Band 1. Heidelberg 1996 Lehmann, Peter: Der chemische Knebel. Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen. Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag: Berlin 1990 (Überarbeitet 2005) zurück zum Text

2 Literaturhinweis zum Thema Strafsystem und Alternativen': Hg: Gruppe Gegenbilder: „Strafe und Intervention" in „Autonomie und Kooperation" Verlag: Projektwerkstatt. ISSN: 1862-2399 (bestellbar bei http://www.projektwerkstatt.de/materialien/band3.html), S.117148. Des Weiteren ist folgende Startseite zu dem Thema im Internet zu empfehlen: http://www.weggesperrt.de.vu zurück zum Text

3 Über den Zusammenhang zwischen Ermordung von Anstaltsinsassen und den Ermordungen in den Vernichtungslagern sowie dem Zusammenhang zwischen Rassenhygiene und Psychiatrie schrieb insbesondere Henry Friedländer in: „Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung" zurück zum Text

4 Thomas Szasz zitiert in: Geschichte der Irren- Offensive. http://www.IrrenOffensive.de/geschichte.htm zurück zum Text

5 Henry Friedländer: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin Verlag: Berlin 1997, S.49 zurück zum Text

6 Binding/Hoche zitiert nach Ernst Klee: „Euthanasie" im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens". Fischer: Frankfurt am Main 1983, S. 21 zurück zum Text

7 Henry Friedländer 1997: S.40 zurück zum Text

8 ebd. zurück zum Text

9 Baader, Gerhard: Die Medizin im Nationalsozialismus. In: Pross, Ch./ Windau, R. (Hg.): Nicht mißhandeln. Das Krankenhaus Moabit. Edition Hentrich im Verl. Frölich und Kaufmann: Berlin 1984, S. 65 zurück zum Text

10 Eine kleine Zusammenfassung über Karl Bonhoeffer mit Literaturverweisen und Proteste gegen das Klinikum Charite Berlin, siehe: http://www.freedom-ofthought.de/may2/aufruf 2006.htm zurück zum Text

11 Dazu siehe Zwang Nr. 2, S.12, „Der Fall Bernburg. Der Streit (über die Gedenktafel)": http://www.freedom-of-thought.de/zwang2 dt/bernburg3.htm und auch die Dokumentation der Aktion von Organisationen Psychiatrie-Erfahrener in Bezug auf die 'Geschichtsfälschung im Hygiene-Museum' in Dresden, Oktober 2006. Aufruf zu Protest und Demonstration: http://www.psychiatrie-erfahrene.de sowie Radiobericht und Script vom Interview mit dem Hygiene-Museum: http://freieradios.net/portal/content.php?id=14094 zurück zum Text

12 Dazu auch der psychiatriekritische Psychiater Peter Breggin: „Der Elektroschock wirkt auch deshalb, weil er Angst und Schrecken verbreitet. Es ist so, wie einer meiner guten Freunde, den man elektrogeschockt hat, gestern zu mir gesagt hat: Nach dem ersten Schock hätte ich alles getan, um entlassen zu werden. Ich machte dann alles, was sie von mir wollten." www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/breggin.htm zurück zum Text

13 http://www.psychiatrie-erfahrene.de/io11/kolonialisierte subjekt.htm zurück zum Text

14 Ausführlichere Begründung für das Verständnis von Zwangspsychiatrie als Folter siehe http://www.freedom-of-thought.de/zwang2 dt/halmi.htm zurück zum Text

15 Alle vorangegangenen Zitate sind aus dem Englischen übersetzt aus: Ron Leifer: A critique of psychiatry and an invitation to dialogue. Ethical human Science and Services, 27. Dezember 2000 zurück zum Text

16 Wiegand, Ronald: Ein zusammenfassender Text über das Lebenswerk von Thomas S. Szasz: http://www.foucault.de/szasz.html zurück zum Text

17 http://www.foucault.de/fouc.html zurück zum Text

18 Foucault, Michel: Mikrophysik der Macht. Merve: Berlin 1976, Seite 83 zurück zum Text

19 ebd. zurück zum Text

20 ebd.: Seite 84
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