Lehrstuhl FÜR Wahnsinn

 

FRITZ MAUTHNER - einst eine größe im öffentlichen geistigen leben Europas
... nicht nur im raume Berlin, wohin er einige jahre nach der gründerzeit von Prag aus zog, und im umkreis des Bodensees, zu dem es ihn nach 1906 zog. Bekannt war er im gesamten Deutsch.sprachigen Europa oder gar erdkreis. Sogar über die sprachgrenze hinaus: eine novelle gab’s seit ende des 19.jahrhunderts in Französisch; seinen roman „XANTHIPPE" übersetzte post(h)um ein NewYorker professor vor 1929 ins Englische, "Mrs. .SOCRATES".

Das war einmal. Im kriegsjahr 1914 war gerade von einem schriftstellernden feuilletonisten, MAX KRIEG, ein buch erschienen, das MAUTHNER als sprachkritischen revolutionär im bereich der philosophie und als BUDDHist feierte. Doch wer wollte das in kriegs- und scharfmacher-zeiten schon lesen? Daß MAUTHNER schon jahre vorm kriegsbeginn mit einem roman schwanger ging, den er 1913/4 fertiggestellt hatte, für den er aber vergeblich die verlage abklapperte; wer weiß das schon - auch unter den leuten vom fach (in diesem falle der philosophie bzw. literatur)?

Und zum ende des krieges zog über Moskau ein dogmatischer inter-/nationaler sozialismus herauf. Danach, von einem ebenfalls im damaligen Österreich geborenen angezettelt (MAUTHNER war genau 40 jahre früher in Böhmen:geboren:1849), fegte über Deutschland ein noch engstirnigerer nationaler sozialismus. Doch das hatte MAUTHNER nicht mehr zu verkraften, sondern seine zweite frau, die seit dem 29.juni 1923 witwe war. Da aber eben MAUTHNER im öffentlichen leben, wenn auch zurückgezogen lebend, eine honorable rolle gespielt hatte -vorübergehend war er ehrenbürger Meersburgs; in einer vom philosophie-verlag MEINER herausgegebenen buchreihe, in der philosophen autobiografisch zu worte kommen, war er inmitten weltberühmter autoren (meist ordinarien) einer der erwählten-, traten berühmte freunde/innen für seine frau HEDWIG (HARRIET) STRAUB, die „Juden-witwe", als gönner, neuDeutsch: sponsoren, auf. Darunter waren G.HAUPTMANN, MARIA EBNER-ESCHENBACH; kammersängerin dr.LILLI LEHMANN; T.KAPPSTEIN, der 1926 ein recht voluminöses werk über M. verfaßte, ANDERSEN-NEXØ ... Und ein unorthodoxer katholischer priester, dem die witwe nach ihrem ableben ihre und MAUTHNERs besitzungen (haus und bibliothek im glaserhäusle) schenkte. Dieser wiederum vermachte die erbschaft, wohl getrübt durch sein hohes alter (ca.90 jahre), an eine betagte, befreundete (DROSTE-HÜLSHOFF-)rezitatorin, die mittlerweile, wenn sie noch lebt, über neunzig jahre alt sein muß. Die zuletzt beschenkte gab das gesamte, dazu gehört ja noch ein wein-hang, an eine Hamburger familie (wohl eines dirigenten) weiter - und zwar noch zu lebzeiten, mit der klausel, im hause wohnen zu dürfen oder so ähnlich. - Nichts genaueres weiß ich nicht.

Nur eines ganz gewiß, daß ich auf einer meiner üblichen touren zum Bodensee unangekündigt zu MAUTHNERs haus kam, einen alten herren eines der obersten fenster schließen sah und trotz meinem klingeln sich nichts tat, obwohl rechts neben dem haus, es war das letzte an diesem weg, ein moderner wagen mit Hamburger kennzeichen parkte. Auf meine ausführliche begründung meines erscheinens und klingelns, verfaßt vor der haustür, wobei mich ein kater schnurrend umstreifte, habe ich bis zu meiner ersten niederschrift dieses textes (1993) und bis heute keine schriftliche reaktion erhalten.

Meinen 1993 geschriebenen text habe ich in Überlingen 70 jahre nach MAUTHNERs tod mit bzw. Auf einer vom Schweizer trödler JOE geliehenen schreibmaschine des namens „atlas ... trend" getippt. Die zweite, veränderte, verbesserte(?), erweiterte auflage tippe ich auf eine diskette, um den medienmäßigen mindestanforderungen der späten 90er zu genügen - um nicht zu sagen: an der schwelle zu einem weiteren jahrzehnt, jahrhundert oder gar -großspurigst zu einem neuen jahrtausend, was ja alles irgendwie stimmt, den text aber auf keinen fall allein deswegen besser, brisanter, welt-bewegender macht. Z.zt. wechselte gerade das jahr: wenige stunden ist das neue jahr 1999 (ein -zumindest für die Deutschen-GOETHE-; für mich eher ein MAUTHNER-jahr) alt.

Was fällt kundigen menschen bei nennung des namens MAUTHNER ein? Parodien? Noch RECLAM in Stuttgart leitete hundert jahre nach M.s ausgabe eine parodien-sammlung mit der damaligen einleitung M.s ein. Romane? Sie hatten damals eine weite leserschaft und rezensionen auch in außerDeutschen geistigen monopolen und oft mehrere auflagen, wie z.b. die drei bände mit dem obertitel „Berlin west". Vielleicht kommt ihm ja von zeit zu zeit ein brief von oder an MAUTHNER unters auge; oder ein artikel aus dem Berliner Tageblatt, für das er vor und nach der jahrhundertwende regelmäßig geschrieben hat. Zu anfang hauptsächlich als theaterkritiker -er hatte selber mit knapp über 20 jahren ein drama „ANNE" verfaßt-, später als zu allen möglichen anlässen schreibender z.b. zum tode GEORG SIMMELs, über die „neugier", über das verhältnis von philosophen zum krieg okt.1914, den sich ROMAIN ROLLAND wohl falsch übersetzen ließ, jedenfalls legte er ihn kriegshetzend aus. MAUTHNERs kompetenz zeigt sich vor allem in dem gerade genannten aufsatz über „Die neugier", den er weder in seine von ihm selbst herausgegebenen aufsatzsammlungen, noch in seine gesammelten sechs-bändigen werke (Stuttgart: dva 1919) aufgenommen hat.

Das wär’s dann wohl schon an assoziationen zum namen MAUTHNER: Manchen eingehender gebildeten ist hier und da sicher in texten anderer autoren so einiges über MAUTHNER ins augenmerk geraten. ALEXANDER MOSZKOWSKI, ein witze-sammler, -philosoph, hobby-musikwissenschaftler, -mathematiker und amüsanter essayist, nannte MAUTHNER in seinem „Panorama meines lebens" einen geradezu heiligen, der täglich vom Himalaya in seine Berliner redaktionsstube herunterzuklettern schien. Ein kompetenter reisebuch-verfasser und kunstkenner beschrieb unter dem stichwort Meersburg MAUTHNER als einen tröstenden philosophen, der trotz seines atheismus’ die auf demselben friedhof wie er liegende DROSTE-HÜLSHOFF, wäre sie viele jahrzehnte später gestorben, zu ihrer lebzeit seelisch ausgeglichener und gefaßter gemacht haben könnte.

Wer philosophisch gebildet ist, hat zu MAUTHNER normalerweise kaum einfälle. Wer sich aber nicht nach den gängigen büchern, seminaren und zeitungsberichten bzw. zeitschriften-artikeln richtet., sondern nach eigenen kriterien, sachlich weiterforschend in gut ausgestatteten philosophie-bibliotheken umschaut und das recherchierte mit der eigenen urtreilskraft prüft, dem wird auffallen, daß gerade da, wo MAUTHNER inhaltlich richtungweisend (vor)dachte, er gerade nicht genannt, geradezu unverschämt verschwiegen oder aus unkenntnis beharrlich nicht erwähnt wird.

MAUTHNERs unvoreingenommene analyse seiner philosophischen wegbereiter und (zeitgenössischen) gegner ist in ihrer breite und umfänglichkeit mit wenigem vergleichbar. Je nach aspekt wäre ein SENECA; ein MONTAIGNE, GIORDANO BRUNO, DIDEROT, VOLTAIRE, LESSING, HERDER, GOETHE, LA ROCHEFOUCAULD, JEAN PAUL; SCHOPENHAUER, HEINE und/oder FONTANE; von den nachgeborenen LANDAUER, FRIEDELL oder KORZYBSKI mit MAUTHNER gleichrangig. Der nachdruck des „wb.d.philos." im DIOGENES-verlag (1910/11 - 1980) spricht auf dem umschlag von MAUTHNERs „enzyklopädischem pamphlet". Wenn man diese äußerung noch mitbedenkt, kämen MAUTHNER noch persönlichkeiten wie SWIFT, HOGARTH, STIRNER, NIETZACHE; MAINLÄNDER; BUSCH und MARK TWAIN nahe.

Wie kommt es eigentlich dazu, daß ein so fulminanter, ein riesen-werk geschaffen habender kopf, wie MAUTHNER nun mal einer war, nicht in die verästelungen der philosophie oder gar des gesamten kulturlebens hineingewirkt hat, wenn doch, dann nur unterschwellig? Ich könnte sagen, das kann kein mensch wissen, nicht einmal vermuten. - Ich könnte aber auch auf diejenigen schimpfen, die seine texte unterdrückt, verschwiegen, bekämpft oder ohne namensnennung für sich ausgeschlachtet haben. In der erstauflage dieses blattes habe ich LUDWIG WITTGENSTEIN und PETER HÄRTLING -jeden für sich vehement, fast zornig- aufs korn genommen. Aber das alles kann kein grund sein, daß ihn willentlich/wissentlich bzw. unwillentlich/unwissentlich andere autoren verdecken, auf die dauer seine wirkung eingrenzen konnten. Denn es gibt ja auch genügende aktivitäten und persönlichkeiten, die für MAUTHNER sprechen und einnehmen.

HILDE DOMIN und andere verlautbaren, daß der skeptiker MAUTHNER für JAMES JOYCE eine so wichtige stellung einnahm, daß der spätere NOBEL-preisträger SAMUEL BECKETT dem durch augenoperationen behinderten J. aus MAUTHNERs sprachkritischen schriften vorlesen mußte. Welch ein hör- oder schauspiel: zwei Iren in Paris lesen einen Deutschen, der weder in Englisch noch in Französisch vorlag, jedenfalls was die gelesenen stellen angeht.

TUCHOLSKY begann manche kritik mit den worten „was würde wohl der alte FRITZ MAUTHNER dazu sagen?".- Wenn ich die schilderungen bedenke, daß MAUTHNER sich um die waisen des ehepaars LACHMANN-LANDAUER nach den wenige jahre aufeinander folgenden toden beider kümmerte; daß er dem freund, der in manchen politischen ansichten von MAUTHNER sehr abwich, dennoch eine leidenschaftlich einfühlende, aufrüttelnde grabrede gehalten hat; daß er sogar weihnachten nicht von seinem täglichen gelehrten tun abspannte, sondern die eltern- und obdachlosen kinder um sich scharte, mit kleidern versah und bewirtete, dann kann ich LUDGER LÜTKEHAUS verstehen, der in einem einstigen SCHOPENHAUER-jahrbuch den Frankfurter mit dem Bodensee-BUDDHA verglich, und damit fast gleichstellte.

Ich kann nicht umhin, die MAUTHNER-lektüre als etwas besonderes zu empfinden. Als wenn meine augen in spuren von tritten eines messias’ nacheilten bzw. verweilten, zu solch tiefen gedanken zwingen einen einfach die wörter und sätze MAUTHNERs. Obwohl ja jedes buch nur ein abdruck einer aufgeschriebenen gedankenfolge ist, aus dem ich die gedanken in mir rekonstruieren kann, ist mir ein MAUTHNER-buch fast eine reliquie. Nicht gerade einem BUDDHA-zahn oder einem potentiellen kreuzigungsnagel JESU vergleichbar, aber es hat für mich schon so ‘was wie ein geheimnisvoller handschriftlicher brief von z.b. ARTHUR an seine schwester ADELE SCHOPENHAUER oder z.b. wie eine notiz des blinden philosophen VAIHINGER an seine kollegen, die er ohne fremde hilfe aus dem stand selber, und daher unzulänglich, aber erkennbar, ausgeführt hat (einen solchen brief habe ich einst ersteigert, ohne gegengebot) -. Ebenso prickelt es mich, wenn ich eine übersetzung aus den schriften LEONARDO DA VINCIs oder FRANZISKUS’ (z.b. das sonnengebet) lese/höre oder eine stelle EINSTEINs, daß ihm in bestimmter hinsicht SCHOPENHAUERs bewußtseinsdefinitionen am meisten zusagen. Ich werde in diesem MAUTHNER-jahr diesen text noch weiter überarbeiten und eventuell in unterpunkten weiter ausführen. Hier jedoch möchte ich einge dinge noch erwähnen, die für mich mehr sind als nur ein hoffnungsschimmer, MAUTHNERs esoterischer ruhm könnte sich auf einen größeren teil der (nicht nur Deutschen) menschheit ausbreiten. Seit einigen jahren hat MAUTHNER in der Britannica nicht nur einen eintrag, sondern sogar einen recht ausführlichen, fast eine spalte langen. Seit über zwanzig jahren gibt es die wichtigsten stellen aus MAUTHJNERs sprachkritiken von einem Oxforder professor ins Englische übersetzt; dasselbe buch gibt’s auch in Deutsch, also mit übersetzter einleitung. Der Frankfurter EICHBORN-verlag gab l989 die bis 1923 zum ersten mal erschienene „Geschichte des atheismus" neu heraus, aber schlecht ediert, viele buchstaben sind falsch; wahrscheinlich war die umsetzung, transskription, von Deutschen in Lateinische buchstaben, ansonsten eine menschliche fleißarbeit, die arbeit eines computers/scanners mit ein paar abm-hilfskräften.

LARS GUNNARSON; ein Berlin sehr verbundener Schwedischer weltautor, verfaßte als stipendiat und fellow in Berlin seine linguistische habilitation über u.a. MAUTHNER. - Daß der frühe BUBER, unter dreißig-jährig schon MAUTHNER herausgab, war sicher für BUBERs entwicklung nicht übel. Dazu noch eine kleine anmerkung: wer das grab MAUTHNERs auf dem evangelischen friedhof in Meersburg besucht, wohnt am besten und am billigsten wie angemessensten in der Überlinger jugendherberge. Ein sponsor hatte deren erbauung veranlaßt - unter der bedingung, daß die büste BUBERs im foyer ausgestellt und ein satz von ihm an die jugend ausgehängt sein würde.

Nur ein wer(h)mutstropfen mischt sich zu beginn dieses jahres in meine hoffnung auf verbreiterte wirkung MAUTHNERs: die vor kurzer zeit neu begonnene herausgabe der werke MAUTHNERs (diesmal der philosophischen) im Wiener BÖHLAU-verlag ist vorübergehend(?) eingestellt worden. Wahrscheinlich sind die wissenschaftlichen bibliotheken versorgt mit MAUTHNER, die populär(wissenschaftlich)en mit geld unterversorgt. Und der gewöhnliche bürger wie Du und ich kann die lexikon-großen bände nicht bezahlen. Oder er hätte das geld, dafür aber nicht die lust, das vorwissen.

Möge ihm das schicksal diesen text oder was anderes von/über MAUTHNER zuspielen. Also lieber gefälliger - zufälliger leser, mache diesen menschen ausfindig und, wenn Du feuer gefangen hast, stecke ihn gleich mit an. Das wünscht sich ...

... FRITZ J. RUDERT, der es nicht lassen kann, darauf hinzuweisen, daß ich mindestens an der FU Berlin eine lehrveranstaltung im rahmen des lehrstuhls für wahnsinn über den „philosophischen guru MAUTHNER" ab april initiieren werde. („Wahnsinn" bedeutet hier das, was sich die schul- und uni-weisheit von der rationalität nicht erträumen kann, umfaßt das ganze: die rationalität und die irrationalität bzw. die wechselbeziehung zwischen beidem.)

Fritz Rudert 31.12.98/1.1.99

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