Gerburg Treusch-Dieter

Von der Hexe zur Hysterikerin


Der Titel meines Vortrags - „Von der Hexe zur Hysterikerin" - bezeichnet einen Umschlagspunkt, der zwischen Vergangenheit und Zukunft inmitten einer Gegenwart anzusetzen ist, die sich heute durch die reproduktionstechnologische Herausnahme der Lebensentstehung aus dem weiblichen Körper in Verbindung mit der Gentechnologie bestimmt: eine Technisierung der Fortpflanzung, der nicht nur ihre endgültige Entkopplung vom Sex korrespondiert, sondern sie hält außerdem, perspektiviert man die Zukunft, auf die Klonierung des Menschen zu. Ihr gegenüber wird die bisherige Konstruktion der Geschlechterdifferenz obsolet, die vom „Wahnsinn" der Hystera nicht zu trennen ist.
Perspektiviert man die Vergangenheit, dann rast diese Hystera im antik-christlichen Ehemodell, das noch unabdingbar an die männliche Zeugung im „Weibchen" gebunden ist, wie sie Aristoteles codiert: vermittelt über die Materie, bringt sich der Geist selbst hervor, damit die Unsterblichkeit des Männlichen, trotz der Sterblichkeit des Weiblichen, gewährleistet wird. Die physische Zeugung ist der Effekt einer metaphysischen Seele, deren männliche Form sich nicht im, sondern am weiblichen Stoff bewegt. Mit Beginn der Moderne zeigt sich dieses Ehemodell aufs Äußerste erschüttert. Denn im inquisitorisch-dämonologischen Diskurs des „Hexenhammers" (1487) gilt, daß die unsterbliche Art des Männlichen durch die sterbliche Entartung des Weiblichen - und sein nach „unten" offenes Geschlecht - in ihrem Innersten gefährdet ist.
„Frauen sind nicht ganz dicht". Sie sind das „Einfallstor des Teufels", der mit ihnen kopuliert: mit ihrer unreinen Materie, die schon immer vom reinen Geist abgefallen ist. Die Taufformel, daß sich Gott zu den ihm „vermählten Seelen" wie „der Gatte zur Gattin" verhält, kippt in ihr Gegenteil. Sie entstellt sich zur Formel von den Incubi und Succubi, die nichts anderes, als die ohne Gott verkehrenden Geschlechtswerkzeuge sind - männliche Geschlechtswerkzeuge als Incubi, weibliche Geschlechtswerkzeuge als Succubi. Der Teufel bewegt sie in Verbindung mit der Sünde, die ein Synonym für die Hexe ist; er bewegt sie zwecks Auflösung jener in der Taufe geschlossenen Vermählung, wobei er als Dämon nicht am weiblichen Stoff, sondern im weiblichen Stoff operiert.
Ausgehend von der Taufformel verwies diese Vermählung - als keusche - auf den Glauben; als unkeusche zeigt sie darum, entsprechend der Incubi-Succubi-Formel, den Unglauben innerhalb des antik-christlichen Ehemodells an. Dieser Unglauben ist im dämonologisch-inquisitorischen Diskurs des „Hexenhammers" - der die „Ketzerei der Hexen" als crimen mixtum, als ein kirchliches und bürgerliches Verbrechen definiert - entweder auf die Ketzerei zu beziehen, auf die Ableugnung des Glaubens, die in Bezug zu jener Vermählung mit „Ehehinderung" gleichgesetzt wird; oder aber dieser Unglauben ist Apostasie, Abfall vom Glauben, der nichts anderes, als Hexerei und damit „Ehebruch" ist.
Nur bei der „Ehehinderung" ist die Hexe in Verbindung mit dem Dämon im Spiel; bei „Ehebruch" oder dem Abfall von Gott wirkt der Dämon, in Mann und Frau, allein. Was aber resultiert aus diesem in sich verschränkten, geistlich-fleischlich Sinn des dämonologisch-inquisitorischen Diskurses für die Hexenverfolgung und ihren „Wahn", der an die Paarung Hexe-Dämon ebenso wie an diesen allein gebunden ist? Erstens, kann das kirchliche Glaubensverbrechen als bürgerliches Zeugungsverbrechen verfolgt werden; zweitens, initiiert die Incubi-Succubi-Formel eine Diskursexplosion, in der sich die moderne Diskursivierung des Sex ankündigt. Drittens, verweist die Paarung Hexe-Dämon in dieser Diskursivierung auf die Fortpflanzung, der allein wirkende Dämon aber auf einen, von ihr unabhängigen, Sex.
Als solcher kombiniert der Dämon die Sünde des Begehrens mit Bildern, die er aus der „Schatzkammer der Einbildungskraft" heraus-, und in die Eingeweide, den „Hauptsitz des Fühlens", hinabführt. Durch diese begehrten Bilder, oder Bilder des Begehrens, tritt an die Stelle der göttlichen Wahrheit der Wahn, dessen Einbildung jedoch der Status des Wirklichen zukommt. Denn die Verfasser des „Hexenhammers" konstatieren, daß das, was der Dämon bewirkt, auch durch die Bewegung des - in Mann oder Frau mittels ihrer Einbildungskraft erregten - Blutes entstehen kann. Mit dieser Wahnproduktion, deren „begehrte Bilder" sich im 15./16. Jahrhundert auf eine Reformation der Kirche beziehen, soll nicht nur Millionen die ketzerische Wahrheit abgesprochen werden, sondern der dämonologisch-inquisitorische Diskurs dringt auch - über die „Bilder des Begehrens", die mit der Incubi-Succubi-Formel verbunden sind - ins Innere der Geschlechter ein bis hin dazu, daß die Zeugungs- und Seelenkonstruktion des antik-christlichen Ehemodells zusammenbricht.
Die metaphysische Seele, die innerhalb dieses Modells, wider die weibliche Entartung, die männliche Arterhaltung garantierte; diese metaphysische Seele, deren männliche Form am weiblichen Stoff durch die Vernichtung desselben in den Hexenverfolgungen gerettet werden soll; diese metaphysische Seele transfomiert sich durch den im weiblichen Stoff wirksamen Dämon in eine moderne Psyche, die in Mann und Frau sowohl dem Organismus angehört als auch auf seine physische Zeugung bezogen ist. Der dämonologisch-inquisitorische Diskurs selbst ist es, der diese Transformation auslöst, weil er verbietet, was er hervorruft, weil er negiert, was er produziert, während er vom Symptom (der Unkeuschheit) aufs Motiv (des Unglaubens), also vom Äußeren aufs Innere der Individuen schließt.
In diesem, bisher Gott vorbehaltenen, „Inneren" etabliert sich zwischen 16. und 18. Jahrhundert - so Foucault in seinen drei Werken „Wahnsinn und Gesellschaft", „Überwachen und Strafen", „Sexualität und Wahrheit" - ein Wissen vom Menschen über den Menschen, das mit neuen, nicht mehr auf das Gesetz, sondern auf die Norm bezogenen Machtmechanismen verbunden ist, die das Recht hin zur Kontrolle, die spektakuläre Strafe hin zur präventiven Technik der Disziplin verschieben. Das politisch-anatomische Register der Religion ist zwar als Vertikale zwischen „Oben" und „Unten" weiterhin im strukturellen Spiel, aber in der gesellschaftlichen Horizontalen entwickelt sich das politisch-technologische Register jener neuen Macht-Wissens-Mechanismen der Disziplin, die um die Wende des 18./19. Jahrhunderts in den Disziplinen der Wissenschaften vom Menschen ihre Entsprechung finden.
Summarisch kann darum gesagt werden, daß die Disziplinarmechanismen des dämonologisch-inquisitorischen Diskurses, die auf Individualisierung, Isolierung und Internierung zielen, zum einen mit der Ablösung von der Religion zugunsten eines empirisch sich begründenden Wissens vom Menschen über den Menschen verbunden sind; zum zweiten mit der zunehmenden Diskursivierung des Sex, die sich ab dem 17. Jahrhundert im Kontext des Umschlags vom Dämonologischen ins Pathologische - und von der Hexe zur Hysterikerin - durchsetzt. Zum dritten gilt im Zuge dessen, daß das Sex-Geheimnis an die Stelle des Glaubens- als Zeugungsverbrechen tritt.
Dabei erscheint die Folter, deren äußerliche Pein zum Geständnis dieses Verbrechens, gemäß der Formel vom Incubus-Succubus-Verkehr, führte, als Pein im Individuum selbst, das sich mit seinem Sex-Geheimnis, als ob es sich selbst „in die Zange" nähme, durch zwei ineinandergreifende Prozesse zu konfrontieren hat: „Wir sagen dem Sex seine Wahrheit, indem wir entziffern, was er uns von sich sagt; er sagt uns die unsere, indem er befreit, was sich davon entzieht" (1977, 89). Foucault geht davon aus, daß diese Pein einer permanenten Selbstkontrolle und -prüfung „das Projekt einer Wissenschaft vom Subjekt (konstituiert), (das) immer engere Kreise um die Frage des Sexes (und seines Wahnsinns GTD) gezogen (hat). Die Kausalität im Subjekt, das Unbewußte des Subjekts (...), all das hat im Diskurs über den Sex seine Entfaltung (...) als Funktion von Machttaktiken (finden müssen), die diesem Diskurs immanent sind" (ebd., 90).
Je mehr das Sex-Geheimnis „zum großen Gegenstand des Verdachts (wird), zum schwachen Punkt, von dem uns Unheil droht; zum Stück Nacht, das jeder von uns in sich trägt" (ebd., 89) und zu „erhellen" hat, desto mehr transformiert sich der Gegensatz von Sünde und Heil, auf den sich das Begehren innerhalb der Religion bezieht, in den „großen monotonen Gegensatz" von Normalität und Pathologie. Dabei ist in diese Transformation die Umstrukturierung des dämonologisch-inquisitorischen Diskurses zum medizinisch-psychiatrischen Diskurs eingeschlossen, indem die sexuelle Abweichung, die sich in jenem „Geheimnis" verbirgt, zur organischen Begründung für Geisteskrankheit wird unter der Bedingung, daß sich das Begehren innerhalb der modernen Subjekt-Konstruktion verschiebt. Denn es ist nicht mehr, wie im antik-christlichen Ehemodell, mit den Eingeweiden, dem „Hauptsitze des Fühlens" verbunden, sondern es wird eine Funktion des im Gehirn kulminierenden Nervensystems.
Das heißt, im medizinisch-psychiatrischen Diskurs oszilliert das nervende und genervte Begehren nicht mehr um Teuflisches und Göttliches, sondern um Wahnsinn und Vernunft, während es zum ver-rückten Ausgangspunkt eines „Erkenntnisbereichs" wird, den man - so Foucault - um die Wende 18./19. Jahrhundert „mit dem relativ neuen Wort ‘Sexualität’ umschreibt". Unter der Voraussetzung, daß es dieser Erkenntnisbereich ist, von dem der Sex als „kranker" und „gesunder" abhängt - und nicht umgekehrt; unter dieser Voraussetzung gilt, daß der medizinisch-psychiatrische Diskurs, anstelle der Einkörperung von Dämonen, zur Einkörperung von Perversionen übergeht, unter denen, obwohl sie sich - wie die Dämonen - zur „Legion" ausdifferenzieren, dennoch zwei pathologische Paradigmata zu unterscheiden sind, die hier mit der Paarung Hexe-Dämon, also mit der Diskursivierung des fortpflanzungsbezogenen Sex, dort mit dem allein wirkenden Dämon, also mit der Diskursivierung des fortpflanzungsunabhängigen Sex korrespondieren: Hysterie und Onanie.

1) Stichworte zur Hysterie (basierend u. a. auf Szasz): daß die Hexen der eigene Grund ihrer „Übel" seien und nicht der Dämon, diese Auffassung vertritt bereits Johann Weyer (1515 - 1588) gegen die Inquisition. Johannes Baptista Helmont (1577 - 1644) führt diese „Übel" der Hexen auf die Hystera zurück, die das Bild des Mannes gesund oder krank empfange; krank aber „pregen sie", diese „Weibs-Bilder", sich solche „Bilder ein, von denen sie (...) zu (...) Dingen fortgerissen werden, die sie sonst nicht verlangen würden, also daß sie über ihrer (...) Unsinnigkeit nicht genug klagen können". Pinel (1745 - 1826) ernennt diese „Unsinnigkeit" zur Geisteskrankheit, die Esquirol (1772 - 1840) um eine, als Gerichtsgrundlage verwertbare, Unzurechnungsfähigkeit erweitert, der die unmündige Rechtsposition der Ehefrau im 19. Jahrhundert entspricht. Charcot (1825 - 1893) macht die noch immer als „eingebildetes Übel" geltende Hysterie zum Gegenstand seiner Neuropathologie, indem er sie seiner Lehre von den Nervenkrankheiten einfügt.
Freud erklärt die Hysterie zur Neurose. Dabei affirmiert er Charcots schriftliche - und ebenso für dessen Vorgänger geltende - Quellen, die „reichlich aus den erhaltenen Berichten der Hexenprozesse und der Besessenheit (schöpfen)", wozu Freud in seiner 1923 entstandenen „Teufelsneurose im 17. Jahrhundert" ausführt: „Wir dürfen nicht erstaunt sein, wenn die Neurosen dieser frühen Zeit im dämonologischen Gewande auftreten, während die der (...) Jetztzeit (...) als organische Krankheiten verkleidet erscheinen. Mehrere Autoren, voran Charcot, haben bekanntlich in (...) der Besessenheit (...) die Äußerungsformen der Hysterie agnostiziert; es wäre nicht schwer gewesen, in den Geschichten dieser Kranken die Inhalte der Neurose wiederzufinden (...). Die dämonologische Theorie jener dunklen Zeiten hat gegen alle somatischen Auffassungen der ‘exakten’ Wissenschaften recht behalten".

2) Daß die „‘exakten’ Wissenschaften" der Psychiatrie keine sind - ohne daß sie dies, wie die Freudsche Psychoanalyse, erkennt - gilt gleichermaßen für die Onanie, die aus dem alleinigen Wirken des Dämons in Mann oder Frau hervorgeht. Stichworte (basierend u. a. auf Szasz): 1710 erscheint anonym, „Onanie oder die verruchte Sünde der Selbstbefleckung", eine Schrift, die die Masturbation mit Geisteskrankheit gleichsetzt. Noch indem sie 1730 ihre fünfzehnte und 1780 ihre dreißigste Auflage verzeichnet, zirkuliert schon ab 1758 Tissot’s „Onania, eine Abhandlung über die durch die Masturbation hervorgerufenen Störungen", die diese Geisteskrankheit medizinisch fundiert, von der es Ende 18. Jahrhundert heißt: ihre „Pest" habe sich an den Schulen so ausgebreitet, daß die Behörden dagegen einschreiten sollen; eine Ausbreitung, für die Benjamin Rush in seinen „Medical Inquiries upon Deseases of the Mind" 1812 den Nachweis liefert.
1816 scheint ganz Europa vom „Masturbationsirresein" erfaßt, während ein Leitartikel um die Mitte des 19. Jahrhunderts konstatiert: „Weder Pest, Krieg, Pocken (...) haben für die Menschheit verheerendere Folgen gezeitigt, als die Angewohnheit des Masturbierens - sie ist das zerstörerische Element der zivilisierten Gesellschaft". Analog der französische Arzt Pouillet 1876: „Von allen Lastern und Übeltaten, die man rechtens Verstöße wider die Natur nennen kann und die die Menschheit in ihren Sog reißen (...), ist das Masturbieren (...) eines der größten und am weitesten verbreiteten Verbrechen". Im Gegensatz zu seiner Expansion, ist es jedoch mit Schwundsymptomen verbunden: mit Gedächtnisschwund, Schwinden des Augenlichts, Rückenmarksschwindsucht, Lungenschwindsucht, Schwindelgefühl und schließlich mit Impotenz, Wahnsinn, Tod.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die Therapie dieses „Verbrechens von der Psychiatrie übernommen, während in der zweiten Hälfte vor allem chirurgische Eingriffe angewendet werden. Daß diese Therapie Strafe ist, die sich in Selbstbestrafung verkehrt, ist daraus zu entnehmen, daß die Geisteskrankheit der Onanie gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wie die Hysterie, als Neurose aufgefaßt wird, die auch Freud 1894 in „Die Abwehr-Neuropsychosen" konstatiert. Sei es, daß die Hysterie hinsichtlich des fortpflanzungsbezogenen Sex diskursiviert wird, oder die Onanie hinsichtlich des fortpflanzungsunabhängigen Sex: Ende 19. Jahrhundert gilt, daß „das Projekt einer Wissenschaft vom Subjekt, (das) immer engere Kreise um die Frage des Sexes gezogen hat", floriert.

Der Sex ist der ver-rückte Ausgagspunkt für beides, für die Bevölkerungspolitik und die Disziplinierung der Körper. In dem Maß aber, wie beidem der Erkenntnisbereich der Sexualität vorausgesetzt ist, in dem Maß trifft für die Hysterie zu, daß sie stets auch auf die Geburtenkontrolle der gegen Ende des 19. Jahrhunderts sich konstituierenden Gynäkologie verweist, während die Onanie untrennbar mit der Pädagogisierung des kindlichen Sex verbunden ist, aus der gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Sexologie hervorgeht. Doch wie immer die Hysterie auf die Bevölkerungspolitik, oder die Onanie auf die Disziplinierung der Körper zu beziehen ist: beide werden unter dem Verdacht, daß sie eine fundamentale Gefahr für die Gattungs- und Selbsterhaltung sind, vom medizinisch-psychiatrischen Diskurs bei seiner Verwaltung und Bewirtschaftung des Lebens instrumentalisiert.
Dementsprechend erscheint in diesem Diskurs die Biologie auf der Ebene einer Poltik, wie sie Malthus’ „Essay on the principle of population" (1798) repräsentiert; ein Essay, der von der Selbst- als Gattungserhaltung durch die Anpassung der Individuen an eine Ökonomie des Mangels ausgeht. Da für Malthus die „necessity" die „mother of invention" ist, welche die Verbesserung des Menschen im Sinn einer „human perfectibility" initiiert, die von der Unzucht zur Zucht aufsteigt. Indem der medizinisch-psychiatrische Diskurs Ende 19. Jahrhundert die Darwinsche Evolutionstheorie rezipiert, dynamisiert sich dieses Verbesserungs-Kontinuum bis hin zum Punkt, wo die biologische Ökonomie der Selbst- als Gattungserhaltung in eine ökonomische Biologie umschlägt, in der Vererbung und Erwerbung ununterscheidbar sind. Denn für Darwin fungieren Mutation und Selektion, natürliche Zuchtwahl und natürliche Auslese als „allgemeines Gesetz, das für den Fortschritt aller organischen Wesen sorgt, nämlich vervielfältigen, verändern, den Stärksten leben und den Schwächsten sterben lassen".
Ausgehend davon differenziert sich der medizinisch-psychiatrische Diskurs ab Ende des 19. Jahrhunderts sowohl rassenbiologisch als auch sexologisch aus. Indem er die Grenzen der Anstalt durchbricht und „angewandte Wissenschaft" wird, werden Normalität und Pathologie mit den Begriffen von Erbkrankheit und -gesundheit legiert, die sich doppelt auf den Zivilisationsprozess der Moderne beziehen. Denn er sei es, der die natürliche Auslese hindere und zum Erwerb von Erbkrankheiten führe; die Individuen aber sind es, die dies nach dem Motto der Anpassung des Menschen an seine Umwelt durch ihre Erbgesundheit zu kompensieren haben, indem beides, die Mutationen und die Selektionen, zu ihren Lasten gehen. Dabei setzt die Rassenbiologie, gegen die individuelle Entartung - und zwecks ihrer Aufartung - am fortpflanzungsbezogenen Sex an, während die Sexologie, soweit sie sich auf den fortpflanzungsunabhängigen Sex bezieht, eher reformerisch-liberal vorgeht.
Beide aber, Rassenbiologie und Sexologie, die sich unter anderem dadurch unterscheiden, daß der fortpflanzungsbezogene Sex hinsichtlich der Bevölkerungspolitik Kostenfaktor, der fortpflanzungsunabhängige Sex hinsichtlich der Disziplinierung der Körper jedoch erwerbsfähig ist; beide zielen auf eine Verbesserung des Menschen, die an ihm selbst zugleich als „Zivilisationskrankheit" geahndet wird. Dabei scheint diese „Zivilisationskrankheit" Wende 19./20. Jahrhundert mit einer zur „Seuche" gewordenen „Geschlechtskrankheit" identisch, deren „neurasthenische" - hysterische, onanistische und sonstige „Legion" von Perversionen - die Selbst- als Gattungserhaltung grundlegend infrage stellen. Daß es sich umgekehrt verhält, daß die Einkörperung dieser Perversionen über den Erkenntnisbereich der Sexualität vermittelt ist, dies erweist die Genetik, da sie ebenfalls um die Wende 19./20. Jahrhundert daraus die Konsequenzen zieht, daß dieser Erkenntnisbereich - folgt man Foucault - „über das Leben der Körper", auf das „Leben der Gattung" zielt.
Denn die Genetik entdeckt dieses „Leben der Gattung" jenseits aller Zivilisations- und Geschlechtskrankheit in der Desoxyribonukleinsäure (DNS), die bereits Ende des 19. Jahrhunderts zur Verfügung steht (Miescher 1869), aber erst heute (seit 1953) als die molekularbiologische Information allen Lebens im Zusammenhang damit begriffen wird, daß die Lebensentstehung (seit 1971) aus dem weiblichen Körper herausgenommen ist. In diesem Zusammenhang, der das Rasen der Hystera beendet, zu dem sich die Onanie komplementär-entgegengesetzt verhält; in diesem Zusammenhang könnte auch der medizinisch-psychiatrische Diskurs beendet sein. Stattdessen ist das Gegenteil zu verzeichnen. Denn er, der die Einkörperung der Dämonen durch die Einkörperung der Perversionen weiterführt, er ist heute dabei seine Diskursgeschichte durch die Einkörperung von genetischen Defekten weiterzuführen. Von hier aus sei die Forderung dieser Tagung und die des kommenden Foucault-Tribunals wiederholt: Schluß mit der Psychiatrie, der es bisher - wie Freud gegen seine eigene Psychoanalyse bemerkt - noch nie gelungen ist, ihre Macht-Wissens-Produktion durch „‘exakte’ Wissenschaften" zu begründen. Warum? - weil ein Wissen vom Menschen über den Menschen schlicht unmöglich ist.

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