Bernd Ternes

„Von einem, der nicht mehr angeben kann, was nicht wahnsinnig ist"

Ich möchte kryptisch beginnen, mit etwas, was mir ad hoc einfiel, als ich vom Thema des Symposiums erfuhr.
"Wahnsinn ist das Blut, Normalität das Organ Haut. Durchschneidet man letztere, strömt Wahnsinn heraus. Das Blut evakuiert alle Konzentration auf sich und evoziert die möglichst schnelle Verstopfung der nun offenen Stelle. Das macht der Körper von selbst. Um Körper zu sein, der lebt, braucht er seine spezielle Art von Geschlossenheit, von Umschlossenheit. Was, im Dunkeln, umschlossen wird, die Innereien, die Knochen, der Blutkreislauf, besteht physikalisch zu 2/3 aus Wasser. Wasser ist der Sinn."

I

Was ist Wahnsinn, was ist Chaos, was ist was für wen? Peter K.Schneider und Erich Ruff boten vor mehr als 10 Jahren in ihrem Buchtitel an, den Wahnsinn begriffen zu haben ("Der begriffene Wahnsinn", FFM 1985). Ihr kognitives Modell zur Aufklärung und Therapie des psychotischen Verhaltens, so der Untertitel, klammerte sich gleichsam nicht um irgend somatisch-nervöse Quellen für die Psychose, sondern setzte ein kybernetisches Raster an, um dem Wahnsinn seine Begreifbarkeit zurückzugeben. Das fand ich sehr plausibel, so daß das Folgende vor dem Hintergrund dieses Ansatzes entstand, speziell ihres Ansatzes, in den Verhältnissen eines Menschen zur Natur, zu Mitmenschen und zum ExistenzSinn einzig bewegte Paradoxien zu sichten, die nur deswegen nicht zur Kataplexie des Menschen führen, weil dieser für die jeweiligen Verhältnisse ihn selbst konstituierende Fiktionen ausbilden konnte. Die einzige Aufgabe dieser Fiktionen ist es, dem Basispostulat individueller Selbsterhaltung folgend Fixierungen zwischen mir und der naturhaft, zwischenmenschlich und sinnhaft vermittelten Welt zu erstellen, die ohne Rest bleiben müssen. Reflexionsrestfreie Fiktionen, besser bekannt unter dem Titel "einer ursprünglichen Vertrautheit mit sich selbst". Entsteht doch Rest, dann auch all die Typen von Weltbeziehungsfiktionen, denen man Wahnsinn-Genese unterstellt: also Verichlichung, Verdinglichung, Identitätslosigkeit und Übernahme, Omnipotenz und Sinnverlust. Das ist der immanente Wahnsinn geistigkultureller Existenz. Sinn ist sein Operationsmodus. Das 'Menschheitsunternehmen Sinn' steht also im Mittelpunkt, wenn über Wahnsinn geredet werden soll.

Ausgehen will ich zum ersten davon, daß Wahnsinn keine Eigenschaft eines Menschen ist, sondern qualitativ im Geist, in der Information, der Kommunikation, also im Sinn seine Genese hat, und nicht energetisch, neurophysiologisch oder materiell abgeleitet werden darf (etwa so wie bei Edward Shorter, der die passende Antwort auf Wahnsinn in der Genchirugie sichtet). Oder deutlicher: Um der Wahnsinnigkeit näher zu kommen, muß man klären, was zwischen den zwei folgenden Polen passiert: daß einerseits jedes Ereignis einer Kommunikation mit einer sog. Sinnbruch - oder Sinnmodifikationsmöglichkeit "arbeiten" muß und dementsprechend als synthetisiertes Ereignis der Kommunikation unausweichlich heterogen verfasst ist; und daß andererseits keine Kommunikation ohne die Illusion einer Homogenität der Ereignisse wie der Benutzer auskommt (bei Habermas sind das die logisch notwendigen praktischen Idealisierungen), um zu passieren, also so tun muß, als gäbe es einen Schmelzpunkt zwischen psychischem und sozialem Verstehen, an dem die Sinnentnahme und das Sinnverstehen der Subjekte die eine Seite, und die Sinnbereitstellung der Kommunikation die andere Seite ein und derselben Medaille sind. Dem Wahnsinnigen ist diese Fiktion, ist die Verunsichtbarung dieser eigenartigen Unmöglichkeit, ist also die Reduktion der immer paradoxen Heterogenität abhanden gekommen. Er haust im Subjekt des Sinns. Ich will 2. davon ausgehen, daß Wahnsinn ein genuines Produkt der Moderne ist, und zwar als Effekt des Umstandes, daß die Realabstraktion in eins mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft strukturell eine Unmöglichkeit placiert hat, nämlich die Unmöglichkeit, im voraus auszumachen, wozu das Handeln, wozu das Kommunizieren, wozu das Verkehren, wozu also die Kultur gut ist. Vom einmal in Gang gesetzten obersten Wert, das ist die Verwertung des Werts, angetrieben, ist die Moderne zur eigendynamischen Reproduktion der Systeme Übergegangen und überläßt die gesellschaftliche Evolution führungslos sich selbst. Neben dem "Es muß sich rechnen!" ist es der Sinn, der nun die Aufgabe übernommen hat, sowohl für Subjekte wie für soziale Systeme den asymmetrischen Kontakt zwischen sich und der Welt zu organisieren, zwischen sich und anderem Grenzen, Sinngrenzen, einzuführen, und zu reduzieren. Das, was zwischen mir und der Welt vermittelt wird, wird durch Sinn begrenzt. Dem Sinn entkommt keiner, auch nicht, gerade nicht der Wahnsinnige. Das Subjekt hat zwar noch zusätzlich seinen Körper; doch der spielt kaum mehr eine Rolle für den Verkehr gesellschaftlicher Kommunikation. Ich möchte nun 3. behaupten, daß Sinn selbst, sei es als Derivat eines radikalen Imaginären wie bei Castoriadis oder als ewig Unbestimmtes und dadurch Verweisungsüberschuß Produzierendes, einem Wahn entspringt, nämlich dem Wahn, mittels Sinngrenzen nicht bloß irgendetwas zu ordnen, sondern gleich die Elemente eines System, aus denen es besteht, und die Elemente, die es reproduziert. Was sich der Sinnverarbeitung entzieht und als sich Entziehendes den Monitoren des Bewußtseins bemerkbar macht, kann nur angst machen, kann nur Angst sein als das, was nicht mehr täuscht, weil es sich nicht mehr in den Ozillationsbetrieb aktual/potential eintauschen läßt. Der im klassischen Sinne Wahnsinnige ist nun nichts anderes als eine Art Monitor der reinen Funktion des Sinnmechanismus. Was dem "Normalen" qua Unreinheit seines alltäglichen Undweiterlebens nicht gelingt (im Sinne von: jede Antwort ließe sich auf eine unverständliche Frage zurückführen: und trotzdem funktioniert es), wenngleich eindeutig in ihm angelegt, das hat sich beim Wahnsinnigen vollzogen: Die vollständige Subsumption aller Dimensionen seines Existierens unter die Zwänge der sinnhaft sein müssenden Weltkontakte. Der Anspruch des Sinns an Sinnhaftiges wird derart monströs, daß er auf die Welt verzichtet, die dem Anspruch nicht mehr genügt. Vielleicht ist jede normative Einstellung zur Welt schon ein petit mal des Wahns. Wie dem auch sei: Die Subsumtion, der Wechsel ist so vollständig wie etwa der vom Satz 'Arbeiten, um zu leben' hin zum Satz 'Leben, um zu arbeiten'.
4. und abschließend gehe ich davon aus, daß die eh schon hauchdünnen Trennwände zwischen Sinnfälligen und Wahnsinnigen dadurch noch dünner werden, indem die forcierte Verzeitlichung von Funktions, Zeichen und Identifikationszusammenhängen, man kann auch von Ausfransung sprechen, eine gewisse Lockerung in der Beurteilung wahnhaften oder sinnfälligen Tuns mit sich bringt, die zwar als Fortschritt deutbar wäre, bis jetzt aber eher zu Indifferenz, sprich: zur Verantwortungslosigkeit zu führen scheint. übrig bleibt die Ambivalenz, die sich aus dem rasend gewordenen Verdinglichungszusammenhang gesellschaftlichen Verkehrs ergibt: Die Freigabe "primitiver" Ordnungen am Menschen als Effekt einer erhöhten Stufenleiter entmenschlichter Ordnungsgefüge. Salopp gesagt: im Vergleich zum Sozialisationsvehikel Staat ist das Sozialisationsvehikel Technik blinder, also toleranter gegenüber anschaulicher ANomie/ANormalität. Sollte man sich auf die Suche machen nach dem richtigen im falschen?
II
Von wo aus spricht man, spricht man über Wahnsinn? Und über welchen spricht man: Den hellen, den schieren, den klugen, den kalten, den fette Beute machenden, den umzingelnden, letztlich: über den normalen Wahnsinn? Wie vermag man ihn noch als Gegenstand konstruieren, wenn angesichts seiner nur noch von einer nominalistischen Differenz gegenüber dem Nichtwahnsinn ausgegangen wird? Wenn Schillers Satz "Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang" (Das Lied von der Glocke, 1799), also der hohe Preis langanhaltenden Unglücks wegen der Versuchung, ein unmägliches Glück zu erhaschen, für heutige Verhältnisse nur gilt, indem man sich das unwahrscheinliche Unmögliche als längst überall hin verbreitete Wahrscheinlichkeit zu denken hat? Wie vermag man ihn zeitlich, kulturell und anthropologisch anzusetzen, wenn man einerseits der transkulturellen Psychiatrie oder auch der Ethnopsychologie nicht folgt, für die Schizophrenie in allen Kulturen etwa gleich häufig anzutreffen ist, andererseits aber Georges Devereux' Erklärung des Sachverhalts, daß Schizophrenie in einfachen oder auch primitiven Gesellschaften und Kulturen fehle, nicht gutheißt, also nicht gutheißt, daß in komplexen Gesellschaften polyvalente Orientierungen Menschen überfordern und so die entstehende Desorientierung Schizophrenie wenn nicht verursacht, so doch stark bedingt? Sondern meint, darüber hinausgehen und behaupten zu müssen, daß Psychose und Schizophrenie eben auf Orientierung, besser: auf beibehaltener Orientierung des subjektiven, interpersonalen und gesellschaftlichen Weltverhältnisses in Richtung Orientierung rückzuführen sein könnte? Daß also kein Mangel an lebens, sinn und verständigungermöglichenden Fiktionen zur Verunsichtbarung paradigmatischer Paradoxie für Wahn verantwortlich ist, sondern im Gegenteil ein Zuviel an Fiktionen, also an Konzepten der Erträglichmachung? (Man kann hier gerne die alte Frage, woran die mit sich zerfallende Moderne litt, zuviel oder zuwenig Rationalität?, gerne wiederaufgetaucht sehen.) Wie und von wo spricht man über Wahnsinn, wenn sein Erwähntwerden, Benutztwerden und das institutionelle Bewiesenwerden seiner Existenz (Psychiatrie) längst die Funktion verloren hat, als Kontrastmittel zu dienen, um sich referentiell der eigenen Normalität und Nichtwahnhaftigkeit versichern zu können, gleich der Versicherung von normaler Realität durch die Referenz Disneyland, wie es Baudrillard einmal erwähnte? Wie fasst man Wahnsinn soziologisch auf, wenn sich einem eine Einstellung zur gesellschaftlichen Welt eingebildet hat, die nichts erklärungsbedürftiger findet als den Umstand, daß Millionen und Abermillionen noch jeden morgen zur Arbeit fahren, jeden Sommer in den Urlaub, einmal pro Woche (oder Monat) in die Frau/in den Mann und fast jeden Abend ins Reich der dumpfen Meditation vorm Fernseher, aber nicht massenweise aus der Haut? Wenn man, Wahrnehmung und Leidenschaft vielleicht etwas zu krude verkoppelnd, meint, daß, wäre es den Menschen auf den Tod verboten, etwas ohne Leidenschaft zu machen, sie eigentlich nur noch dazu in der Lage wären, rücklings liegend laut zu schreien? (Zur Zeit finden sich immer mehr Menschen in Fußballstadien ein, um auf Stehplätzen zu schreien.)

Bild
Setzt Wahnsinn ein? Wann setzt Wahnsinn ein? Vielleicht dann, wenn man sich ablenken will, dies aber nicht mehr schafft, weil man bei allem, was man probiert, daran denken muß, daß man sich ablenken wolle, weil man das pure, sozusagen gegenstandslose, das nackte Warten nicht ertragen kann? Wenn man sich in einem Zeitstau befindlich wähnt und seiner Gewalt in dem Maße zunehmender ausgesetzt ist, wie man Anstrengungen unternimmt, die Zeit wieder in Fluß, ins Vergehen hinein zu bewegen, als auch zunehmender ausgesetzt ist, wie man die Anstrengung unternimmt, nichts, gar nichts mehr gegen den Stau zu unternehmen, sich ihm auszusetzen gewillt ist, und also die allseitige Ohnmacht erfährt, die so total ist, daß sie überhaupt keinen Unterschied zu sich mehr möglich macht?
"Man will etwas sagen, aber doch nicht etwas Bestimmtes, das wäre zu vereinzelt, sondern sofort alles. Also reißt man den Mund auf beziehungsweise den reißt es einem auf. Aber heraus kommt natürlich nichts. Man bleibt stumm, stumm, stumm. Nicht das kleinste Stöhnen. Aber das von innen nach außen drängende Empfinden, dieser geradezu pochende Äußerungswunsch wird nicht schwächer, wenn erlebbar wird, daß es zu nichts als zu diesem Äußersten Mundaufreißen kommt. Eine Art Schmerz wird immer deutlicher. Jetzt spürt man, daß dieser Schmerz überhaupt die Hauptsache ist, der ist überhaupt die Empfindung, die heraus will, die man hat sagen wollen, um derentwillen man den Mund aufgerissen hat. Dieses Stummsein bei offenstem Mund. Nichts - das spürt man - kann einem erlebbarer machen, daß man lebt. Und nur das zu spüren ist einem wichtig. Wenn er Leute anschaute, sah er direkt, daß sie diesen tollen Schmerz kannten, daß sie diese Erfahrung gemacht hatten. Er hat noch nie einen Menschen gesehen, bei dem er sich hätte sagen müssen, der kennt das nicht." - (Martin Walser, Jagd. Roman, FFM 1988, p171.) So läßt Martin Walser seinen Protagonisten Gottlieb, im Hotelbett liegend, im Gedanken einen fiktiven Vortrag beginnen, dessen Sinn es ist zu beweisen, daß jeder Mensch ein Dichter sei. Die Sequenz endet damit, daß sich der Protagonist an seine eigene dichterische Produktion erinnert, sich der Gewißheit versichert, daß diese nichts als nichts ist, sich seiner Fähigkeit versichert, mit diesen voneinander verschiedenen Nichtshöppchen eine Spur, und zwar seine Lebenspur, bezeichnen zu können, und sich abschließend vergegenwärtigt, dieser seiner Lebensspur, also diesem seinen Nichts weiterhin treu sein zu wollen. Und das heißt, ins Verhandelbare gesetzt: Seiner eigenen Unbekanntheit vertrauen und sie zugleich fürchten! Ist das ein Mittel gegen Wahnbezug und Wahnbesetzung, fern eines "Ich ergebe mich" oder eines sakralisierenden Hauchs des Entsetzens?

III
Von wo aus sprechen? Und: Gibt es noch überzeugende Limitationen, die uns daran hindern, Hinz und Kunz, dies und das ganz selbstverständlich als wahnsinnig zu bezeichnen? Was könnte uns kontraintuitiv daran hindern, es als Wahnsinn anzusehen, daß die Auszahlung von Opferrenten an Massenmörder der NS-Zeit dem bundesdeutschen Recht und Gesetz entspricht?; daß in der dritten Generation hier geborene Kinder ausländischer Eltern sich um Aufenthaltsgenehmigungen bemühen müssen, weil ihr Blut nicht das Merkmal deutsch inne hat?; oder daß Sybille Tönnies (Die Feier des Konkreten. Linker Salonatavismus, Göttingen 1996) in Adorno einen sieht, dessen regressive Tendenz, die Sucht nach müttlerlicher Geborgenheit (p32), ihn lstern gemacht habe nach dem wahrhaft Konkreten (p42), zu einem Rauner vom zerstörten Mythos, zu einem Radikalkritiker an allem, was nicht archaischurmenschlich sei (p79)? Derrida sieht gar in der Idee der Gerechtigkeit und in deren Dekonstruktion den Wahn herrschen, also in ihrer "Forderung nach einer Gabe ohne Austausch, ohne Zirkulation, ohne Rekognition, ohne ökonomischen Kreis, ohne Kalkül und ohne Regel, ohne Vernunft und ohne Rationalität im Sinne des ordnenden, regelnden, regulierenden Beherrschens ("Gesetzeskraft. Der 'mystische Grund der Autorität'", FFM 1991, p52). Nun ja. Fest steht für mich, daß man, in Analogie zum Satz, daß dort, wo das Klima der Ausgewogenheit herrscht, Wahrheit nur noch als sprachlicher Unglücksfall entsteht, heute nicht mehr davon ausgehen kann, im Wahnsinn als Unglücksfall einer sinnformvorschriftdurchherrschten Wirklichkeit Wahrheit zu Gesicht zu bekommen. Geht es noch um Wahrheit? Aber was drückt Wahnsinn aus, wenn er die Fähigkeit verloren hat, auch kluger oder fröhlicher Wahnsinn sein zu können und nun nur noch teleologischtotalitärer Wahnsinn ist? Wenn also Erasmus von Rotterdams "Lob der Torheit" (1509) tatsächlich von Hegels Einschätzung des Wahnsinns (in der Phänomenologie des Geistes und der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften) geschluckt worden ist?

Bild
"Man verlangt von uns Taten, Beweise, Werke, und alles, was wir vorweisen können, ist verwandeltes Weinen", sagt Cioran. Reicht der Wahnsinn in dem Moment ins Reich der Sichtbarkeit hinein, wenn diese Verwandlung, ob regressiv oder produktiv, nicht mehr wie bisher zu gelingen vermag, wir nicht mehr unsere Tränen verarbeiten und verbauen können, sondern meinen, in ihnen zu ertrinken? Und dann aber feststellen, daß auch dies, das Ertrinken als späte Strafe auf Sünde, nicht mal mehr gelingt, und jetzt erst der Wahnsinn ausbricht aus der letzten noch für möglich gehaltenen Ordnung Strafe/Sünde, die ihn im Zaume hätte halten können?
Sich kennen, so Cioran, bedeute, seine Dämonen zu ersticken. Am Ende, so Luigi Nono, gehorchen wir unseren Dämonen. Ist Wahnsinn der Zustand, in dem man sich kennt, aber seine Dämonen nicht ersticken kann, ihnen dann gehorchen will, es aber nicht schafft, unendlich leidet, aber daraus keine Erkennntis mehr produzieren kann?

IV

Wie also nun reden über Wahnsinn, nachdem jeder greifbare Aplomb fallengelassen wurde?
"Gesegnet war die Zeit, als Einsame ihre Abgründe erproben konnten, ohne als Besessene oder Gestörte zu gelten." Gab es je solch eine Zeit? Und: Ist es heute in der Zeit noch möglich, sich dem Abgrund ohne Schwindelgefühl auszuliefern, sich am Kontakt mit der Irrealität anzureichern, sich auszuprobieren als schon längst getöteter, ohne wahnsinnig, gestört und besessen zu werden? Ist die Zeit heute eine, die von ungeheuer vielen eine Existenzvivisektion im Stile Ciorans verlangt und sie damit maßlos überfordert, weil sie eingesehen haben, den Begriff "ich" weiterhin gebrauchen zu müssen, ihn aber nicht mehr gebrauchen können?; weil sie eingesehen haben, daß sie die anderen nur aushalten, weil sie einsam sind, ihre Einsamkeit aber nur aushalten, weil sie mit anderen sind?; kurz: weil ihnen zu Ohren kommt, daß es keinen Anschluß und Abschluß gibt? Sich am Kontakt mit der Irrealität anzureichern: was das heissen kann, finde ich in Christoph Buggerts soziologischer Hörspiel-Trilogie des bürgerlichen Wahnsinns ausgedrückt. Ich möchte, wenn mir dieser Impressionismus erlaubt ist, "anschliessend" einige Stellen erwähnen, um zu verdeutlichen, was ich unter einem kalten Wahnsinn verstehe. Es geht mir nicht um eine Feier der Grausamkeit, sondern darum, wie selbstverständlich hier Wahnsinnigkeit vonstatten geht, im Sinne von Günther Anders' Blick aufs normale Weltgetriebe als die eigentliche Katastrophe. Da ist von einem normalen Vater die Rede, der wieder mal an das Bett seines schlafenden Töchterchens tritt, um sich 10 Minuten an dieser flach ausgestreckten, ruhig atmenden Unschuld zu erfreuen; dem sich dann plötzlich die Frage stellt, ob er überhaupt das Recht habe, sein schwaches, durch und durch von Subalternität und Kleinmut zerfressenes Leben in die nächste Generation hinein zu verlängern; der dann durch allerlei Selbstanklagen den Spiegel der Scham bis unter die Hirnschale hinauf anschwellen läßt, sich daraufhin entscheidet, daß es so nicht mehr weitergehen könne, aus der Küche mit einem Messer zurückkehrt zur schlafenden Tochter, ihr mehrmals in den Hals sticht und das hervorschiessende Blut in sich aufzunehmen versucht, weil, ja weil er seine eigene Mediokrität und Schändlichkeit in sich zurücktrinken mußte: um die Korrektur eines Makels, nicht um ein Verbrechen habe es sich handeln sollen.
Oder: Die Stationsärztin, die in der Zeitung die kleine Nachricht liest, nach der ein Observatorium dreitausend bisher unentdeckte Milchstraßensysteme photographiert hat; diese Nachricht habe nun in ihr einen Sogeffekt erzeugt: Ihr kam es vor, als haben sich diese 3000 Milchstraßensysteme ihrer bemächtigt. Seitdem wuchs eine innere Scham in ihr, genährt durch die total vernichteten und ausgelieferten Gesichter abends in der U-Bahn, genährt durch die bis zur Wehrlosigkeit leergesaugten Blicke, genährt durch die geräderten Körper, die sich mit letzter Kraft auf die Wohnungen am Stadtrand verteilen. Gefüllt also mit der Scham über den trostlosen Ernst, mit dem wir unsere eigene Zerstörung betreiben, mußte sie den 3000 neuentdeckten Galaxien ein Zeichen geben, daß wir zumindest unsere Verirrung zu durchschauen vermögen: Unsere Ehre habe sie retten wollen vor allen, die der zu Fall kommenden Welt von außen zusehen. Sie tötete daraufhin innerhalb von 4 Monaten 13 Patienten durch Injektion von Curare: Sühneopfer.
Oder: Die Mutter, die ihre drei Söhne zu ihrem 70. Geburtstag einlädt und ihnen in der Nacht die Kehle durchschneidet, bei der Vernehmung sagt, daß man manchmal handeln müsse, als gäbe es zwischen uns und der Wahrheit keine Schutzhaut mehr, und dann folgendes ausführt: "Wir Deutschen haben uns Gelegenheit gegeben zu zeigen, wer wir sind. Und da hat sich herausgestellt: Mörder sind wir, Tiere! Wie eine Horde Schweine sind wir über unsere Nachbarn hergefallen und haben uns gesuhlt in ihren Betten, in ihrem Leben. Und dann haben wir uns geschämt und haben die Bomben auf uns herabgebetet, damit die Spuren ausgelöscht werden. ... Gegen Ende der Schweinezeit habe ich meine Söhne geboren. Die Luft war so eng und schwer danach, wie Zentnergewichte vom Himmel runter: meine Söhne konnten nicht hochwachsen. ... Wir sind weggerannt vor all dem, was geschehen ist. Und meinen Söhnen blieb gar nichts brig als mitzurennen. Und niemand hat gemerkt oder niemand wollte zugeben, daß die Gewichte sich auf unseren Rücken festgekrallt hatten, daß wir sie mitgeschleppt haben, berallhin, bis heute. Und nun stehen sie so traurig herum, diese deutschen Zwergensöhne: ... überall EinMeter-fünfundsiebzig-Zwerge. Mit ledernen Aktenköfferchen und gestreifter Krawatte. Sie wissen gar nicht, wozu sie da sind. ... Und reden immer weniger. Vielleicht haben sie Angst, wenn sie den Mund aufmachen, dann hört es sich an wie ein Grunzen. In jedem Mercedes sitzt so ein Zwerg. Ich habe meine drei tüchtigen Söhne befreit."
Oder, ein letztes Beispiel aus Buggerts Trilogie des bürgerlichen Wahnsinns: Der Politiker, der tags von Militärs über neue Waffensysteme der Zukunft informiert wird, dabei entsetzt ob der schenkelschlagenden Verantwortungslosigkeit, mit der die Militärs die neuen Waffen begrüßten, zur Einsicht kommt, daß diese geistigen Zwerge die Dimension ihres Tuns überhaupt nicht begreifen; der abends dann mit einem schnellen Wagen und sirrender Klarheit im Kopf durch die Stadt fährt, plötzlich den routinierten Verkehr auf der Straße, die in U-Bahn-Schächte abtauchenden Passanten, überhaupt das so daseinende Dasein als verschwörerische Verharmlosung empfindet, daraufhin von einem kosmischen Hunger nach Wahrheit erfasst wird, und dann nichts anders mehr wollte, als ein Kind, das wenige Meter vor seiner Mutter einen Puppenwagen über den Bürgersteig schob, aus der Lüge herauszuhalten. Der Schrei der Mutter, den er eigentlich gar nicht hören konnte wegen des Motor-Auf-heulens, dieser Schrei sei ihm vorgekommen wie ein lang entbehrtes ehrliches Wort.

Bild
E.M. Cioran bestimmte einmal pars pro toto das Lebenkönnen in Welt und in Gesellschaft mit einer durch die Natur verliehenen Eigenschaft, die dadurch dem Menschen einmal günstig gesonnten gewesen sein muß. Die Kraft eines Wesens liege in seiner Unfähigkeit zu wissen, wie sehr allein es ist. Das deckte sich mit den eher sozialpsychologischen Einsichten Popitz' über die Präventivwirkung des Nichtwissens und mit den moralsoziologischen Hondrichs über die Notwendigkeit eines Schattenreichs unterhalb der offiziösen Gesellschaftswirklichkeit als Bleibe einer jederzeit zum Ordnungrufen bereiten Moral. Sich, so Cioran weiter, dessen klar zu werden, daß die Sehnsucht, mit irgend etwas zu koinzidieren, auf Lebzeit Sehnsucht bleiben wird, sei eine Klarheit mit dem Status, zur Ekstase die negative Entsprechung zu sein. Könnte diese Klarheit den Wahnsinn beerben, ohne zu töten?
V

Im Rahmen der Argumentation für die kognitive Abgeschlossenheit des Gehirns und für die Annahmen, daß für das hirninterne oberste kognitive Ziel der Konstruktion konsistenter Wahrnehmung und Weltdeutung sowohl fundamentale Realitätsbezüge ausgesetzt werden als auch die räumliche Orientierung der visuellen Welt letztgültig dem Gehirn zur Verfügung zu stehen hat, um eben Konsistenz der internen Errechnungen und Errechnungserrechnungen (Kontrolle) zu gewährleisten, kommt Gerhard Roth, einer der mittlerweile bekanntesten konstruktivistischen Neurowissenschaftler, auf die daraus sich ergebenden Konsquenzen für die Bestimmung von Normalität und Wahn zu sprechen. Ein Psychopath, heißt es da, wird sich durch seine wahngeleitete "Praxis" ebenso bestätigt fühlen wie der "gesunde Mensch" durch sein "normales" Tun. Nur der externe Beobachter (der selben Zeit, der selben Kultur, der selben Grundsozialisation?) könne unterscheiden und die Werte eindeutig zuweisen. Woher komme nun aber die Normalität des externen Beobachters und also die Anmaßung, von seiten der Normalität aus Normales und Psychopathisches zu identifizieren? Sie komme konstitutiv daher, so Roth, daß sich der Beobachter hinsichtlich seiner kognitiven Leistungen mit einer großen Zahl von Mitmenschen in übereinstimmung weiß. Der "Verrückte" leide meist subjektiv an dem Anderssein seiner Wahrnehmungen und seiner Gefühle, zumindest wisse er um dieses Andersein; wäre die Welt voller "Psychopathen im psychologischklinischen Sinne, so würde wahrscheinlich jeder von ihnen anders wahrnehmen und empfinden. Die 'Normalen' dagegen bestätigen sich ihre Normalität durch die Übereinstimmung mit der größten Zahl der Mitmenschen. Ein Verrücktsein, das die meisten Leute in gleicher Weise besitzen, kann nicht als Verrcktsein angesehen werden." (Gerhard Roth, Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit, in: Siegfried J.Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, FFM 1987, p229-255, hier: p244f.) Mit vielem in diesen Sätzen bin ich nicht einverstanden. Der Verrückte leide also am Andersein seiner Weltbeziehung; leidet der Normale nicht ebenso unter seinem Ego-Sein, ja darunter, daß sein Wunsch, anders zu sein als andere, exakt dies ist, was er mit allen anderen gemein hat? Ist dementsprechend nicht vielmehr die Kompetenz, sein Leid zu verwandeln, zu sublimieren, zu verdrängen, der entscheidene Punkt für einen Hiatus zwischen normal und verrückt? Und was soll die übereinstimmung mit der größten Zahl der Mitmenschen sein, die einen in den Club der Normalen aufzunehmen fähig ist? Das Gesetz, die Angst, das Recht, der Tausch? Verdienstvoll an Roths überlegungen ist, daß er die Psychpathologie aus einem medizinisch-psychologisch-neuro-biologischen Argumentationskarree evakuiert und sie den Zuschreibungs- und Identifikationspraxen gesellschaftlicher Kommunikation und geregelter Normierung überantwortet, also erklärungs und auch verstehenshinsichtlich die Psychose mehr zu einer Soziochose macht; verdienstvoll gerade auch im Hinblick auf die Psychiatriegeschichtsschreibung in Gestalt Edward Shorters, dem Geisteskrankheiten auf genetisch beeinflußte Störungen der Hirnchemie rückzuführen sind und der das Heil für die Geisteskranken in der Genchirurgie sieht (Der Spiegel, 22/1997, p177-179, hier: p179). Roth irrt aber im fr meinen Teil wesentlichen Punkt: nicht wenn die Welt voller Psychopathen wäre, würde jeder anders als die anderen wahrnehmen und empfinden, sondern: jeder empfindet anders und nimmt anders als die anderen wahr, per se und ohne Ausnahme. Eigenartigerweise geht, liest man Systemtheorie in Richtung Andersartigkeit der Anderen Wahrnehmung, das Theorem von der gegenseitigen operationalen Geschlossenheit von Wahrnehmung und Kommunikation ineins mit dem Theorem der Unwahrscheinlichkeit von wahrheits, entscheidungs, rechtverbindlicher usw. Kommunikation implizit davon aus, daß eine gesellschaftsintegrierende, identifizierende sprachliche Kommunikation als das Medium der Reproduktion der symbolischen Kommunikationsverhältnisse nichts mehr mit den wahrnehmenden Kommunikationskräften und akteuren zu tun haben darf, will sie den Erfordernissen einer real abstrakten Gesellschaftskonstitution gengen. Ließe Gesellschaft nicht nur, wie bisher, abstrakte Modi der sozialen Systembildung in konkreten, interaktionsbestimmten Straten zu, sondern auch wahrnehmungsbestimmte Modi der konkreten Interaktion für abstrakte Normierungs, Regelungs und Tauschprozesse (wie es eigentlich nur noch "in der Kunst" passiert), dann gäbe es steter Kollaps derjenigen Systeme und Funktionen, die sich über Geld, ber strategisches Handeln und Kommunizieren, die sich über Zahlen reproduzieren und grenzerhaltend erhalten. Habermas war übrigens der letzte, der, wie abstrakt gehärtet auch immer, gesellschaftstheoretisch diesen wahrnehmungsbestimmten Modus sprachpragmatischer Art noch einzubringen wagte in die sozialimplosiv gewordene Nicht-mehr-Arbeits-noch-nicht-In-formationsgesellschaft. Was wir heute gegen Ende des 2.Jahrtausend erleben, ist das stete Ausfransen, das Verwildern der Funktionssysteme und Werte der zeit und raumunempfindlichen Abstraktion hin zu einer gewollt zeit und raumsensitiven Abstraktion, sprich: das Verwildern in einen reaktionsgeschwinden Kapitalismus (in eins mit der Ausfransung des Staates als großes Sozialisationsvehikel für eine markterwachsene Gesellschaft). In diesen Zusammenhang gestellt (hier freilich gefährlich grobschlächtig) erscheint das Loslassen der Zügel, die die reibungslose Kompatibilisierung verdinglichter Dinge vor allzuschnell Inkompatibiltität herstellenden Wirklichkeitsfassungen aus Wahrnehmung heraus zu schützen und abzuschirmen hatten (bis hin zum Warenfetischismus), dem neuen Stand dringlicher Ordnungmodi immanent. Eine nachfordistische, zeit"konomieoptimierte "just-in-time" Produktion und Zirkulation korrespondiert mit einer verstärkten Rücuksichtnahme von "just-in-time"-Personalitäten und Kommunikationen, die nicht mehr davon ausgeht, daß letztlich die Verschiedenheit der Einzelnen auf gemeinsame Horizonte, Gründe oder gar Bedürfnisse hin kleingerechnet werden können, sondern davon ausgeht, daß sich bestenfalls noch Exzentriker gemeinschaftlich bzw. verallgemeinernd bündeln lassen. Die Freiheit scheint nicht mehr nur die proklamierte Freiheit des Andersdenkenden zu sein (vom Andershandelnden war nicht die Rede damals), sondern Freiheit scheint jetzt darin zu bestehen, den Anderen auszuhalten, ohne ihn mittels der traditionellen Trivialisierungsmittel noch zu verstehen. Die theoretischen Annahmen über black boxes werden, so hat es den Anschein, sozialpraktisch. Die Kybernetisierungsquote in der Organisation gesellschaftlichen Verkehrs steigt in dem Maße, wie es zunehmend ausreicht, Verhalten als vorübergehend regelmässig oder auch regelgemäß, nicht mehr aber unbedingt als prinzipiell regelgeleitet zu interpretieren (langsamer Verzicht auf regulative Ideen). Aber diese Entwicklungen, so Robert Kurz, haben für die Bewertung zweischneidige Schwerter im Gepäck, denn: "Hatten Strukturalismus und Systemtheorie seit den 60er Jahren die Subjektlosigkeit als Meta-Problem der Moderne noch im Sinne der systemischen Selbstregulation positiv und quasi mechanisch bestimmt, so bringt die gesellschaftstheoretisch reformulierte Chaostheorie als affirmative (marktwirtschaftliche) ein negatives und gefährliches Moment hinzu. Möglicherweise kann die Chaostheorie auch anders und kritisch reformuliert werden; davon ist bis jetzt aber kaum etwas zu sehen. In einem affirmativen Bezug zum globalen Marktsystem wird sie jedenfalls Teil des theoretischen und sozialen Zynismus." (Robert Kurz, Das Ende der Neuen Weltordnung. Ein Essay zur globalen Ökonomie und Politik nach dem Epochenbruch, in: ZkT, 1/1995, p23-42, hier: p24.) Anders gesagt: Wenn die theoretisch längst bekannte, gesellschaftswirklich längst vorhandene Tatsache, daß der größte Teil der Menschheit warenf"rmig nicht mehr menschlich reproduzierbar ist, wiederum heutzutage Einlaß findet ins erneute Nachdenken ber Gesellschaft (2. Aufklärung, vielleicht auch second order), dann schwindet auch Rigidität in der Fassung sozialer Reproduktion. Es darf mehr erlaubt werden, weil der Körper einstigen Verbots und Diziplinierens, das Soziale oder die Gesellschaft, zusehend an Bedeutung verliert für die Verwertung des Werts. Zieht die Harmonie sich zurück, schreibt Michel Serres in "Die fünf Sinne" (FFM 1993, Paris 1985, p139), "sterbe ich unter dem Ansturm des Getöses, das meine schmerzenden Ohren überflutet, als wäre ein Damm gebrochen. Der endgütige Sieg des Vielen bezeichnet das Ende der Agonie." Aber welcherart Agonie wird besiegt, die den Todes- oder die den Wettkampf meinende? Sicherlich die erste Art.
Man kann nun in der Kontraintuition weitergehen. Jeder empfindet und nimmt anders als andere wahr: soetwas zu behaupten geht ja noch an, wenn man im Hintergrund ein Konzept von Sprache oder Kommunikation besitzt, das in diesen ein Medium sieht, eine Entität, durch welche Subjekt-Subjekt-Verhältnisse und Selbst-Realität-Verhältnisse vermittelt werden. Dieses "Ich verständige mich mit jemandem über etwas in der Welt" passiert dann in einer Schnittmenge als Medium, das wahrnehmungsspezifische und idiosynkratische Komplexität einfach subtrahiert und in eins damit sprachliche Komplexität aufbaut, durch die eine gemeinsame Benutzung von Elementen durch verschiedene Systeme/Sprecher möglich würde (das würde über strukturelle Kopplung hinausgehen). Nun gibt es eine Reihe von Autoren, Gilbert Ryle, Daniel Dennett, Donald Davidson, Richard Rorty, im Hintergrund der große Epistemologie-Naturalisierer Willard Van Orman Quine, die auch noch diese strukturelle Absicherung von Ordnung, Gemeinsamkeit, Übereinkunft in einem Dritten oder in einem Medium, sei es Geist, Bewußtsein oder Sprache, in Abrede stellen. Die also ernst machen mit dem von Roth nur für Geisteskranke zutreffenden Bild einer Welt, in der jeder anders empfinden und wahrnehmen würde als der andere. Bei Davidson mündete dieser Wille in die Beschreibung eines Begriffs der vorläufigen Theorie, so Rorty, mit dem Ziel, ein neues Verständnis für das zu gewinnen, was Kommunizieren und Verstehen bedeuten. Man darf hier übrigens an Alfred Lorenzers Konzept des szenischen Verstehens denken, allerdings ohne die Dopplung des Verstehensbegriffs in logisches und psychologisches Verstehen; oder auch an Peter Fuchs' Konzept des Verstehens als ausgestülpte Selektion, die eigentlich nirgends innerhalb eines Kommunikationsprozesses operativ als Verstehen auftaucht. Der Begriff Davidsons handelt von einer vorläufigen Theorie über Geräusche und Sinneseindrücke, die ihrerseits eingebettet zu sein hat in eine vorläufige Theorie über das gesamte Verhalten einer Person. Die Vorläufigkeit besteht nun darin, daß sich die Theorie permanent zu korrigieren hat, weil Murmeln, Stottern, Malapropismen, Metaphern, Tics, Anfälle, psychotische Symptome, Dummheit, geniale Einfälle, Schweigen, Verstummen der Person mitverarbeitet werden. Der Versuch ist also, alles Performative einer Person als Aussagen der performanten Person zu verstehen, nicht aber als bedeutbare Zeichen, die erst in ihrer Verweisungsfunktion für konstative Aussage-Sätze über die Person zu sich kommen. Rorty illustriert folgendermaßen (ders., Kontingenz, Ironie und Solidarität, FFM 1989, p38f.): Er ist gerade mit dem Fallschirm in einer exotischen Kultur gelandet; vor ihm steht eine Eingeborene, von deren Verhalten er sich eine vorläufige Theorie machen möchte. Was passiert nun? "Diese seltsame Person, die mich vermutlich auch seltsam findet, wird gleichzeitig damit beschäftigt sein, sich eine Theorie über mein Verhalten zu machen. Sollten wir uns je leicht und glücklich verständigen können, dann deshalb, weil ihre Vermutungen, was ich wohl als nächstes tun werde, einschließlich der Geräusche, die ich als nächstes produzieren werde, und meine eigenen Erwartungen dessen, was ich unter bestimmten Umständen tun oder sagen werde, sich mehr oder weniger decken, und weil dasselbe für die andere Person auch gilt. Sie und ich gehen miteinander etwa so um wie mit Mungos oder einer Boa Constrictor - wir versuchen, uns nicht überraschen zu lassen. Daß wir dazu kommen, dieselbe Sprache zu sprechen, heißt in Davidsons Worten soviel wie: daß wir 'uns tendenziell in vorläufigen Theorien einander annähren'. Davidsons Quintessenz ist, daß 'alles, was zwei Leute brauchen, um einander beim Sprechen zu verstehen, in der Fähigkeit besteht, sich in vorläufigen Theorien von Äußerung zu Äußerung einander anzunähren". Diese Promotion eines verstehensorientierten Weltverhältnisses als vorübergehendes Bezugnehmen auf Vorübergehendes ist natürlich eine kontrafaktische, da gesellschaftsstrukturell die Versuche von Personen, sich von ihren eigenen Erfahrungen und eigener Geschichte abhängig zu machen, weiterhin noch prämiert werden, sowie die Entstehung sozialer Systeme logisch gekoppelt zu sein scheint an die Auflösung/Vernichtung doppelter Kontingenz. Davidson möchte Sozialität innerhalb doppelter Kontingenz promoten. Er will, daß wir die Vorstelung einer klar bestimmten, gemeinsamen Struktur aufgeben, die die Benutzer einer Sprache zu beherrschen und anzuwenden haben; wir sollen schließlich den Versuch aufgeben, durch den Hinweis auf Konventionen erläutern zu wollen, wie wir uns verständigen. Tja. Wäre das nun der darf man sagen sprach, besser: sprechphilosophische Rahmen, der einzig noch erlaubte, sich dem Thema Wahnsinn auf produktive Weise zu nähern? Ich jedenfalls halte viel von diesen Vorschlägen, die Fragen nach den Relationen zwischen Sprache, Bewußtsein und Welt zu rekausalisieren und nicht mehr mit Kategorien wie Angemessenheit oder gar Wahrheit des Ausdrucks und der Darstellung zu urteilen. Die dabei entstehenden Fassungen des Umgangs mit anderen Personen beinhalten eine große Zumutung an die Bedürfnisse nach Sicherheit, Verläßlichkeit und Halt. Aber sie lösen, so meine ich, eine Paradoxie ein, die ich für unumgänglich halte, will Sozialität zwischen Menschen nicht ihren EigenCharakter abgesprochen bekommen und begrifflich gefasst werden als biologische Variante kybernetischen Verhaltens nichtrivialer Maschinen, nämlich: die Paradoxie, sich vor Angst, Überrascht und Überwältigt-werden nur schützen zu können, indem man sich überraschbar hält.
Denn: Der idealtypische, über gelingende Sozialisation/Individuierung bewerkstelligte, der an Überforderung, Arbeit, Sorge und Anerkennung sich abprobierende Ozillationsbetrieb, der als Produkte 'Vergewisserung', 'Verortung', 'Verallgemeinerung', 'Verantwortung', 'Verzeitlichung' des eigenen Selbst innerhalb des "Ich-und-die-Welt-Spiels" absonderte und damit die bestenfalls Intermediarität von SelbstIdentität sicherte, hat aufgehört zu produzieren. Bestimmte Teile der soziologischen Infrastruktur des okzidentalen Rationalismus, die - gesehen vom hiesigen approach - ausgerichtet zu sein schienen aufs permanente In-Bewegung-Setzen dieser Relaisstationen namens Ich oder Individuum, die gar das vermehrte Intermittierende der Individuen, also das zeitweilige Aussetzen und Hinfallen während der Bewegung aufzufangen fähig waren, werden in dem Moment obsolet, in dem die Iche während des vertikalen Fallens nicht mehr bloß zeitweise aussetzen, sondern nur noch zeitweise einsetzen. Das Verhältnis von Präsens und Absenz hat sich umgedreht, während bestimmte soziologische Infrastruktur-Tableaus (also Vergesellschaftung über Verhaftung der Einzelnen an abstrakte Arbeit, abstrakten Sinn, abstrakte Zeit und abstrakte pragmatische Sprachordnung) immer noch auf dem Stand vor der Umkehrung sind.

VI

Eine letzte Bemerkung: War die Psychiatrie nicht eine Avantgarde, eine Keim- und Experimentierzelle der Organisation von vielen Menschen unter einer Ordnung? Führte sie nicht das ein, abgeschirmt, hinter dicken Mauern, mit starren, grausamen Ritualen, was nun gesellschaftsweit langsam aber sicher, mit modifizierten Mitteln sich durchzusetzen beginnt? Mußte nicht jeder von uns mit ganzem Herzen zustimmen, als die angealterte Clubsängerin in Robert Altmans "short cuts" ihren Refrain sang: "I'am prisoner of life"? Ist die große Gefangenschaft des Wahns (Foucault) nicht selbst erwachsen geworden und überzieht in der altbekannten westlichen Manier der Indirektheit die immer größer werdenden Blöcke von Menschenmassen, die aus der kapitalistischen Produktion herausgebrochen werden, mit einem Ordnungshabitus, wie er sonst nur den Depressiven, Schizophrenen, Psychitikern und Dementen zugekommen ist? Ich will nichts verharmlosen durch diesen Vergleich, weder den psychischen Massenmord der Psychiatrie noch die Opfer im Kampf um die immer kleiner werdenenden Inseln kapitalistischer Normalität. Edward Shorter rechnet es den Johann Christian Reils, den Philippe Pinels, den Ernst Horns und den Egas Monizes der Entwicklung der Psychatrie hoch an, daß sie die Geisteskranken aus der Hölle ihrer unmittelbaren Mitmenschen befreit und ins Lager gesteckt haben. Konzentrationslager für Geisteskranke als gut gemeinter Fortschritt in einer rückständigen Zeit, in der Geisteskranke wie Kreaturen behandelt wurden. Was als Reaktion auf eine wahnhaft dem Wahnsinnigen begegnende Gesellschaft begann, will man es einmal nichtfoucaultanisch sehen, entwickelte sich sehr schnell zu einer Wahnsinnproduktionsmaschine; man darf ohne Fahrlässigkeit wohl davon ausgehen, daß die meisten Anstalten "den Wahnsinnigen" wenn nicht in Gänze produzierten, so doch die Anstrengungen darin legten, den Eingelieferten dem System kompatibel zu machen. So geht es allen Systemen, die anosognostisch dem Wahn ausgeliefert sind, ihre Gegenstände selbstreferentiell zu erschaffen. Man könnte nun sagen, daß die klassische Psychiatrie viel geleistet habe: somatogene Hypothesen sind aufgestellt worden, Therapie und Diagnosereihen erstellt worden..., und sie alle erbrachten für uns nur einen negativen Befund, d.h. wir wissen mit einigem Gehalt, was Geisteskrankheit nicht ist. Aber, so fragen Schneider und Ruff (a.a.O., p239), "weiß dies auch die Psychiatrie selbst; nimmt sie die Geschichte der von ihr selbst geleisteten wissenschaftlichen Falsifikationen als selbst wissenschaftliches Ergebnis überhaupt wahr?" Wäre die Psychiatrie eine Person: man hätte ihr längst schon, glaube ich zumindest, ihre Zurechnungsfähigkeit abgesprochen. Dürfte man das noch? Aber man kann mit der Macht, der Infrastruktur und der Institution Psychiatrie nicht in eine Beziehung treten, die durch szenisches Verstehen geprägt ist, auch wenn alle Voraussetzungen auf Seiten des Wahnbefallenen erfüllt sind. Nicht zu verstehen hat man die noch hegemonial klassische Psychiatrie, sondern zu bekämpfen. Was man dann aber bekämpfte, wäre nur eine von so unendlich vielen Gestalten verdinglichenden Erklärens, gelungenen Verdrängens und dogmatischen Einschliessens von Weltbeziehungen; was man bekämpfte, wäre eine Psychiatrie als medizinische Wissenschaft ohne medizinisches Substrat, wäre eine Objektivation gelungener Fiktion, in der mit der Ver-kehrtheit einer Wissenschaft die Paradoxie einer vermeintlichen Krankeit bekämpft wurde und wird, wäre also eine materialisierte Funktion von bestimmten Fiktionen. Wie aber bekämpft man Fiktionen? Wie bekämpft man sich als einen, der überleben will? Wie bekämpft man also das Überlebenwollen?

28.6.1997, Symposium "Grausames Mitleid"
wg. Thomas Sszasz; erweiterte Fassung





Eine äußerst spekulationsaversive Herleitung dieser Verhaftungsgestalten aus der Perspektive einer anthropologischhistorischen Technikgeschichte liefert H.Popitz, Der Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik, Tübingen 1995. Spekulationsaversiv ist der Blick insofern, als er, getreu dem Motto 'Man muß erst etwas eingeben, um etwas auszudrucken', den gegenwärtigen technischen Entwicklungen eine Rückwirkung auf die bisherige Technikgeschichte unterstellt, die von ebendieser nicht mehr eingefangen werden kann. Und wenn doch, dann würden Unsicherheiten "der offenen Enden" fahrlässig überspielt.
Daran hat sich auch nichts geändert, seit Postmoderne großangelegte Ästhetisierungsanproben einleitete; die Ruinen bestimmter gesellschaftlicher Infrastrukturen, egal ob im- oder materieller Art, sperren sich mir zumindest rätselhaft einer unapplizierhaften Ästhetisierung.

Impressum