Alice Halmi (2010)

 

Zwangspsychiatrie: ein durch Folter aufrecht erhaltenes System

 

Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern Zwangspsychiatrie neben den elementaren Rechten auf Würde, Integrität und Selbstbestimmung ein weiteres Menschenrecht verletzt: Die Freiheit vor Folter. In der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte [Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948] wird Folter durch Artikel 5 verboten: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.”

I. Begriffsbestimmung ‚Zwangspsychiatrie‘

Mit ‚Zwangspsychiatrie‘ sind alle psychiatrischen Zwangsmaßnahmen gemeint, das heißt alle Handlungen, welche im psychiatrischen Kontext und mit psychiatrischer Intention gegen den Willen der von den Handlungen betroffenen Personen begangen werden. Das sind: zwangsweise ‚Begutachtung‘ und ‚Untersuchung‘, zwangsweises Erstellen einer ‚Diagnose‘, zwangsweises Einsperren in eine psychiatrische Anstalt, von den Betroffenen ungewollte, also zwangsweise Verabreichung von psychiatrischen Drogen und Elektroschocks, unerwünschte Lobotomie (Gehirnoperation zu psychiatrischen Zwecken), mechanische Fesselung (sog. „Fixierung“)‚ und sonstige Zwangsmaßnahmen, die innerhalb von geschlossenen Räumen der Psychiatrie stattfinden.1 Im Grunde genommen ist alles, was Menschen, die per Gerichtsbeschluss zwangsweise auf einer geschlossenen Station ‚untergebracht‘ sind, auf Geheiß des dortigen Personals tun ‚sollen‘, ein erzwungenes ‚Müssen‘. Denn würden sie sich widersetzen, könnte das wiederum Zwangsmaßnahmen und/oder eine Verlängerung des erzwungenen Aufenthaltes zur Folge haben. Psychiatrischer Zwang wird auch insofern nicht immer direkt ausgeübt, als zum Beispiel auf einer offenen Station oder im sogenannten ‚betreuten Wohnen‘ gegen den/die Betroffene/n immer die Drohung im Raum steht, in eine geschlossene Station verbracht zu werden, wenn diese/r sich nicht ‚freiwillig‘ ‚behandeln‘ lässt. Des Weiteren werden Menschen, die in einer psychiatrischen „Klinik“ ankommen (z.B. weil sie sich dort Hilfe erhoffen oder aber widerwillig, weil sie von ihren Angehörigen unter Druck gesetzt wurden, sich ‚begutachten‘ zu lassen) gedrängt, eine ‚Freiwilligkeitsvereinbarung‘ für ihren Verbleib zu unterschreiben, mit der Drohung, dass ansonsten ein Gerichtsbeschluss auf geschlossene Unterbringung erwirkt werde. Von ‚Freiwilligkeit‘ kann daher auch hier nicht die Rede sein. Auch in sogenannten ‚halboffenen‘ Stationen sind die Türen verschließbar, so dass das Personal am Eingang kontrolliert, wer rausgehen kann und wer nicht. Wenn ein Mensch das erste Mal auf eine Station gerät und die Psychiatrie ihn nicht gehen lassen will, dann kann sie ihn – wie die Polizei zur ‚Gefahrenabwehr‘ jemanden in Gewahrsam nehmen kann – 48 Stunden lang einsperren, um bis zum Ablauf dieser Zeit den regulären Gerichtsbeschluss auf Zwangsunterbringung zu erwirken. Psychiatrischer Zwang wird des Weiteren im Rahmen eines „rechtliche Betreuung“ genannten Vormundschaftsverhältnisses praktiziert. Bereits der Vorgang der ‚Bestellung‘ einer sogenannten „Betreuerin“ bzw. eines sogenannten „Betreuers“ kann zwangsweise durchgeführt werden und ist ein Akt der Entmündigung. Die „BetreuerInnen“ werden von den Gerichten für bestimmte Tätigkeitsbereiche, „Aufgabenkreise“ genannt, ermächtigt, innerhalb derer sie befugt sind, „stellvertretend“ für die Entmündigten zu handeln, auch gegen deren erklärten Willen. Sie können aufgrund dessen zum Beispiel gegen den Willen der Entmündigten über deren finanzielle Angelegenheiten bestimmen, sie können diese zeitweilig in eine geschlossene Station sperren lassen oder auch ihre Mündel zwingen, anstatt wie bisher in ihrer eigenen Wohnung, in einer psychiatrischen Einrichtung (sogenanntes „betreutes“ oder „therapeutisches“ Einzel- oder Gruppenwohnen) bzw. Wohn- oder Pflegeheim leben zu müssen. Von Entmündigung durch sogenannte „Betreuung“ sind sowohl jüngere Erwachsene als auch SeniorInnen betroffen.

Zwangspsychiatrie ist in Deutschland wie folgt gesetzlich geregelt: Die „öffentlich-rechtliche“ Unterbringung und Zwangsbehandlung von Menschen auf Basis einer psychiatrischen Diagnose erfolgt jeweils nach Ländergesetzen, welche in den meisten Bundesländern „Psychisch Kranken Gesetz“ (PsychKG), in drei Bundesländern „Unterbringungsgesetz“ (Baden-Württemberg, Bayern, Saarland) und in Hessen „Freiheitsentziehungsgesetz“ genannt werden. Hinsichtlich der Legitimation von Zwangsmaßnahmen sind diese Landesgesetze teilweise leicht unterschiedlich formuliert, aber im Kern identisch. Gemeinsam ist ihnen, dass diese Gesetze erlauben, Menschen einzusperren und zwangszubehandeln, die keinerlei Straftat begangen haben. Die Regelung der oben beschriebenen „Betreuung“ genannten Vormundschaft erfolgt über das im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) gesetzte „Betreuungsrecht“. Die psychiatrische Inhaftierung und Zwangsbehandlung von StraftäterInnen erfolgt über §63 StGB und §64 StGB (Drogendelikte) und wird als „forensische Psychiatrie“ und „Maßregelvollzug“ bezeichnet. Ebenso wie die „Sicherungsverwahrung“ erfolgt diese Form der Inhaftierung auf unbestimmte Zeit. Von der Inhaftierung nicht psychiatrisch „diagnostizierter“ bzw. für „schuldfähig“ erklärter Menschen in gewöhnlichen Gefängnissen unterscheidet sich die Inhaftierung in einer Anstalt der forensischen Psychiatrie zum einen (außerdem) dadurch, dass die Haftzeiten in der Praxis bei ein und derselben Straftat erheblich länger ausfallen und zum anderen durch die dort stattfindende psychiatrische Zwangsbehandlung. (Im ‚Gefängnis‘ können die InsassInnen zwar auch einer Zwangsbehandlung durch PsychiaterInnen und ÄrztInnen zugeführt werden, es ist dort jedoch nicht die Regel.)

Einmal psychiatrisch „diagnostiziert“, aktenkundig geworden und somit in das psychiatrisch-staatliche System geraten, erfahren dann viele Betroffene jahrelange Verfolgung durch PsychiaterInnen, Behörden und sogenannte‚ sozialpsychiatrische‘ bzw. gemeindepsychiatrische Institutionen. Sie werden immer wieder in die geschlossenen Abteilungen weggesperrt oder werden erneut dahin genötigt. Oder sie gehen, wie unten dargelegt wird, zur ‚Krankheitseinsichtigkeit‘ gefoltert, nunmehr ‚freiwillig‘ in psychiatrische Einrichtungen. Sie werden unter Druck gesetzt, ihr Leben lang psychiatrische Drogen („Psychopharmaka“) zu nehmen, geben ihre bisherige Lebensplanung auf bzw. werden dazu gezwungen, landen in angeblich ‚therapeutischen‘ Wohneinrichtungen und psychiatrischen Arbeitsmaßnahmen. Ist jemand einmal „diagnostiziert“, so erhöht es sein/ihr Risiko, vollständig entmündigt zu werden oder bereits bei geringen Straftaten, für die andere Menschen möglicherweise nur eine Geldstrafe bekommen, jahrzehntelang in der psychiatrischen Forensik vegetieren zu müssen.

Das Netz psychiatrischer Institutionen ist umfassend und beschäftigt nicht alleine ausgebildete ‚FachärztInnen‘ und Klinikpersonal, sondern auch eine Vielzahl von Menschen anderer Berufsgruppen. So lange es die Möglichkeit gibt, Menschen per Gesetz zu psychiatrischen Maßnahmen zu zwingen, so lange sind auch alle, die in und mit psychiatrischen Institutionen arbeiten, Teil der Zwangspsychiatrie. Beispiel: Auch SozialarbeiterInnen, die in einem psychiatrischen Wohnheim arbeiten, üben dadurch psychiatrischen Zwang aus, indem sie die BewohnerInnen darin kontrollieren, dass sie „Psychopharmaka“ einnehmen. Denn werden diese zum Beispiel dabei‚ erwischt‘, es nicht getan zu haben, können die SozialarbeiterInnen, mittels Meldung bei AmtspsychiaterInnen, widerspenstige BewohnerInnen aufgrund einer psychiatrischen "Diagnose" für einige Wochen in die Geschlossene der stationären Psychiatrie verbringen lassen. Die BewohnerInnen wissen, dass eine Zwangseinweisung mit Zwangsbehandlung immer als Drohung existiert und so können auch Verstöße gegen die Hausordnung und andere missliebige oder für das Personal unbequeme Verhaltensweisen auf diese Weise kontrolliert werden.

Die ‚Arme‘ der psychiatrischen Kontrolle und die ‚Sendeantennen‘, mit denen die Psychiatrie ihre Ideologie in Medien, Bildungseinrichtungen, staatlichen Organisationen, etc. verbreitet, reichen weit in die verschiedenen Ebenen der Gesellschaft hinein. Dabei wird versucht, die Menschheit bereits vom Säuglingsalter an bzw. mittels angeblich „genetischer“ Psychiatrie bereits als Embryonen psychiatrisch zu kontrollieren. Auch insofern ist das, was hier mit ‚Zwangspsychiatrie‘ bezeichnet wird, nicht allein die Maßnahmen im Einzelnen, sondern es ist ein Zwangssystem.

II. ‚Zwangspsychiatrie‘ und UN-Definition von Folter

Die Vereinten Nationen geben in der sogenannten ‚Antifolterkonvention‘ („Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“) vom 10. Dezember 1984 (in Kraft getreten 1987) im Teil 1, Artikel 1, Absatz 1, folgende Definition von Folter:

„im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck ‚Folter‘ jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen, auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Grund, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einer anderen, in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlassung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.“

Psychiatrischer Zwang erfüllt mit Sicherheit folgende Kriterien der in der UN-Antifolterkonvention beschriebenen Definition von Folter:

  1. Einer Person werden große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt.
  2. Es soll eine Äußerung eines Geständnisses bzw. eine Aussage erwirkt werden.
  3. Es wird eingeschüchtert, bestraft und genötigt.
  4. Gehandelt wird auf Grundlage von Diskriminierung.
  5. Die Leiden und Schmerzen werden auf Veranlassung und mit ausdrücklichem Einverständnis von Angehörigen des öffentlichen Dienstes bzw. in amtlicher Eigenschaft handelnden Personen verursacht.

Diese Aspekte werden im Folgenden im Einzelnen begründet. Die im letzten Satz der UN-Definition enthaltene Bedingung für die Erfüllung des Tatbestandes Folter wird, ebenso wie die Frage nach der Vorsätzlichkeit, mit der die TäterInnen den Gefolterten Qualen zufügen, erst in Abschnitt III. im Gesamtzusammenhang erörtert.

zu 1.) Einer Person werden große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt

Vorbemerkungen: Schmerzen und Leiden sind etwas subjektiv Erlebtes. Doch ebenso wie unterstellt wird, dass die Folter, die beispielsweise auf der mittelalterlichen Streckbank verübt wurde, bei der überwiegenden Mehrheit der Gefolterten große Leiden und Schmerzen hervorrief oder hervorrufen kann, so wird hier unterstellt, dass das Erlebnis psychiatrischer Gewalt, die Erfahrung von Entwürdigung und Entrechtung, große Leiden und Schmerzen hervorruft oder hervorrufen kann. Außerdem existiert eine ausreichende Anzahl an leidvollen Erfahrungsberichten, die das belegen. So ist jeder Eingriff in den Körper einer anderen Person, der gegen deren Willen geschieht, Körperverletzung. Woraus dieser Eingriff besteht, ob zum Beispiel aus einer Blutabnahme oder Blutspende, der zwangsweisen Ernährung mit dem Lieblingsdessert des Betroffenen oder aus dem Spritzen einer heilsamen Arznei oder von psychiatrischen Drogen, spielt insofern keine Rolle. Dass die psychiatrische Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka, Elektroschocks, etc. über die Körperverletzung hinaus nach UN-Definition zu Folter wird, ist dann gegeben, wenn sie große Schmerzen oder Leiden bei den Betroffenen bewirkt und dazu auch in Kombination mit den anderen Kriterien der UN-Definition von Folter steht.

Folgende Sachverhalte sind als durch die Zwangspsychiatrie zugefügte, für die Betroffenen schwere Leiden oder als möglicher Grund großer Leiden und Schmerzen anzuerkennen:

die aufgrund jeglicher psychiatrischer Zwangsmaßnahmen erlebte Erfahrung von Entrechtung, Gewalt, Ohnmacht, Entwürdigung, Demütigung und Erniedrigung

die aus der gewaltsamen Vergabe von psychiatrischen Drogen, Elektroschocks und sonstigen Instrumenten psychiatrischer Zwangs-„Behandlung“ resultierenden Folgen für die Betroffenen (Näheres siehe unten)

eingesperrt sein mittels psychiatrischer Willkür

die in zynischer und verharmlosender Weise von der Psychiatrie „Fixierung“ genannte Fesselung (an ein Bett, an eine Liege o.Ä.)

die Verhinderung eines selbstbestimmten Tagesablaufes auf Station durch die Vorgaben der Psychiatrie und durch Zwang oder Nötigung zu sogenannten „Therapien“ bzw. Beschäftigungsmaßnahmen

Kontaktverbote, Besuchsverbote, Telefonverbot, Kontrolle der Post

die Verwahrung in Isolationsräumen

die Entmündigung durch rechtliche „Betreuung“

der langfristigen Verfolgung durch Psychiatrie, Behörden, Betreuungsvereine und Gerichte ausgesetzt sein

die Verleumdung durch zwangsweise Belegung mit einer sogenannten psychiatrische „Diagnose”

die Aberkennung von geistigen Fähigkeiten und der Urteilsfähigkeit der Betroffenen

die unter Umständen lebenslange Verleumdung und Ausgrenzung als „psychisch Kranke/r“, „Geisteskranke/r“, „psychisch Gestörte/r“ und dadurch abgewertet, entmenschlicht und nicht ernst genommen werden

als „Drehtüreffekt“ und „Hospitalisierung“ beschriebene wiederholte Psychiatrieaufenthalte

weitere leidvolle Folgen: sozialer und ökonomischer „Abstieg“ wie der Verlust gesellschaftlicher Anerkennung, des Arbeitsplatzes, der finanziellen Mittel bzw. des Vermögens, des Wohnsitzes und Verlust von sozialen Beziehungen (-> Vereinsamung)

all das kann bei den Betroffenen auslösen: Angst, Verunsicherung, Beeinträchtigung des Selbstbewusstseins, des Selbstwertgefühls, des Lebensmutes und des Lebenswillens bis hin zur Selbsttötung.

Die zwangsweise Verabreichung von psychiatrischen Drogen („Psychopharmaka“) und Elektroschocks („Elektrokonvulsionstherapie“) können bei den Betroffenen sowohl große körperliche als auch geistige und emotional-‚seelische‘ Leiden hervorrufen. Zum einen ist jeglicher zwangsweise Eingriff in den eigenen Körper, die erlebte Körperverletzung, egal mit welchen Mitteln, im Besonderen der ungewollte Übergriff mit Mitteln, die zu Bewusstseinsveränderungen und zur Beeinträchtigung der geistigen Fähigkeiten führen, ein erniedrigendes, entwürdigendes, schockierendes und beängstigendes Erlebnis, das zu schweren und auch langanhaltenden ‚seelisch‘- emotionalen Leiden führen kann. Die Nachwirkungen sind zu vergleichen mit denen einer Vergewaltigung oder eben jenen, welche die Menschen erleiden, die in den Gefängnissen dieser Welt gefoltert werden. Zum anderen werden die schädlichen und die Vitalität einschränkenden Folgen des Konsums psychiatrischer Drogen und diejenigen durch Elektroschocks bewirkten von den Betroffenen als entsprechend qualvoll empfunden. Hierbei spielen die Leiden und Schmerzen, welche durch die akuten körperlichen Beeinträchtigungen bedingt sind und auch diejenigen, welche mit der gegebenenfalls schweren und langfristigen und möglicherweise sogar irreversiblen Schädigung von Organen einhergehen wie auch der zeitweise oder anhaltende Verlust von geistigen und emotionalen Fähigkeiten und darüber hinaus die daraus entstehenden sozialen Folgen eine Rolle. Betont werden muss hierbei, dass der ‚Konsum‘ von Pharmapräparaten und von Elektroschocks im Kontext der Zwangspsychiatrie geschieht. Würde der Gebrauch von Pharmapräparaten und von Elektroschocks nicht innerhalb dieses Kontextes der Zwangspsychiatrie stattfinden, dann wären die entstehenden schmerzlichen und schädlichen Folgen nur eine Konsequenz aus der freien und informierten Entscheidung der KonsumentInnen, für die sie alleine und für sich selber die Verantwortung tragen. Da dies nicht der Fall ist, hier aber auch keine biochemische Diskussion geführt werden kann und soll, werden im Folgenden lediglich einige wenige Hinweise gegeben. Wen es weitergehend interessiert, stößt auf eine Fülle kritischer Literatur, auch seitens medizinischer AutorInnen, die sich mit den Wirkungen der von der Psychiatrie eingesetzten Chemikalien, Elektroschocks und anderen angeblich‚ therapeutischen Behandlungsmitteln‘ auseinandersetzt. Hinsichtlich psychiatrischer Drogen ist auch der Blick auf die offizielle Packungsbeilage einschlägiger Markenprodukte genügend aufschlussreich.

Die sogenannten Neuroleptika sind eine standardmäßig und häufig bei stationärer Zwangsbehandlung verabreichte und ebenso auch ambulant auf Dauer von PsychiaterInnen verordnete Gruppe psychiatrischer Drogen. Es sind in erster Linie nervenlähmende Mittel, die daher regelmäßig sowohl zu Behinderungen im Bewegungsapparat der KonsumentInnen als auch zu geistiger und emotionaler Schwerfälligkeit führen. Die politischen oder sozialen bzw. persönlichen Gründe und die Wertanschauungen und Probleme eines menschlichen Individuums, welche zu eventuell missliebigen Denk- und Verhaltensweisen geführt haben, aus denen PsychiaterInnen dann wiederum eine „psychische Krankheit“ konstruieren, lassen sich auch durch diese Art von Drogen nicht beseitigen. Das ist eigentlich eine ganz banale Erkenntnis, die im Zusammenhang mit dem Konsum von Substanzen wie Alkohol oder Heroin längst zur Allgemeinbildung gehört. Aufgrund ihrer lähmenden und apathisch machenden Wirkung ist der Einsatz von Neuroleptika vielmehr ein der Psychiatrie dienliches Instrument, sie als ‚chemische Knebel‘ einzusetzen. Sogar von Psychiaterseite wurde mehrfach zugegeben, dass Neuroleptika „chemische Lobotomie“ bewirken würden,weil sie Zerstörung von Gehirnmaterie verursachen. Der Autor des Buchs „Der chemische Knebel“, Peter Lehmann, wies darauf hin, dass für die Veränderung der „Lebens- und Sinnesweise (…) in Richtung Willenlosigkeit und Antriebsschwäche“ die Psychiatrie sogar einen Fachbegriff hat: „Leukotomie- Syndrom“.2 Ein anderer Kritiker, Peter Breggin, legte dar: „Um zu verstehen, was die Pioniere über die Neuroleptikawirkung sagen, muß man zuerst die Wirkung der Lobotomie verstehen“, „Man produziert einen Menschen, der emotional abgestumpft und abhängiger ist und daher leichter kontrolliert werden kann“.3 Walter Freeman, der durch seine „Eispickel-Lobotomie“ populär geworden ist (siehe unten), erklärte unverblümt die aus seiner Sicht gesellschaftlichen Vorteile ihres Effektes: „Die Gesellschaft kann sich an den unbedarftesten Arbeiter anpassen, aber sie mißtraut zurecht dem verrückten Denker…Lobotomisierte Patienten werden ziemlich gute Bürger.”4 Im psychiatrischen Lehrbuch „Psychiatrie fast 6 h crash- Kurs“, das den Anspruch hat, in Kürze die wichtigsten Grundlagen der psychiatrischen Praxis zu erklären und auch als Vorbereitungsmaterial für medizinische Examensprüfungen genutzt wird, geben die Autoren an, dass (zumindest die hochpotenten) Neuroleptika charakteristische und schwerwiegende Auswirkungen „auf das extrapyramidal- motorische System“ (Parkinsonoid, Früh- und Spätdiskynesie und Akathisie) haben und im schlimmsten Fall auch das „gefürchtete“ maligne neuroleptische Syndrom hervorrufen können.5 Insgesamt betrachtet greifen Neuroleptika in nahezu sämtliche Körperfunktionen ein und rufen mit hoher Wahrscheinlichkeit Symptome verschiedenster weiterer körperlicher ‚Erkrankungen‘ oder ‚Störungen‘ hervor, wie Herzschäden, Augenkrankheiten, motorische Fehlfunktionen, Verhinderung des Sexualtriebs, krankhafte Veränderungen des Blutbildes und des Knochenmarks, etc.6

Der heutzutage in der psychiatrischen Sprache euphemistisch, also verharmlosend und beschönigend, als „Elektrokonvulsionstherapie“ (EKT) bezeichnete Elektroschock erzeugt einen künstlichen epileptischen Anfall im Gehirn. Die, wie sie sich selber in ihrem Vorwort bezeichnen, „psychiatriebegeisterten Autoren“ des oben genannten Lehrbuchs machen dazu deutliche Angaben: „Durch bitemporal oder halbseitig an der nichtdominanten Schädelhälfte angelegte Elektroden wird mit einem einige Sekunden andauernden Stromimpuls ein Grand-mal-Anfall ausgelöst (der epileptische Anfall, nicht der Strom ist therapeutisch wirksam!). (…) Ein Patient enthält i.d.R. 6-12 EKT- Behandlungen (zumeist mit einem therapiefreien Zwischentag), bis die erwünschte Wirkung eintritt.“7 Dass diese durch Serien von Elektroschocks erzeugten Gehirnkrämpfe langfristige Zerstörungen oder Veränderungen des Gehirns anrichten und langfristig negativen Einfluss auf die Vitalität, Emotionalität, den Antrieb und die Denk- und Gedächtnisleistung eines Menschen haben, wird seitens der KritikerInnen erbittert angeklagt und seitens der VerfechterInnen von Elektroschocks bestritten. Ein prominentes Beispiel für den Untergang eines Menschen ist der Schriftsteller Ernest Hemingway. Er wurde im Dezember 1960 elf Elektroschock-„Behandlungen“ in der Mayo- Clinic in Rochester, Minnesota unterzogen, drei Monate später folgte eine weitere Serie von Schocks. Einen Monat später, wenige Wochen vor seinem 62. Geburtstag im Jahr 1961, erschoss sich Hemingway. Hemingway äußerte sich zuvor verzweifelt: „Diese Schock-Ärzte wissen nichts über Schriftsteller, wissen nichts von Gewissensbissen und Reue, wissen nicht, was sie ihnen antun… Welchen Sinn hat es denn, meinen Kopf kaputtzumachen und mein Gedächtnis auszuradieren, das doch mein ganzes Kapital ausmacht? Die Operation ist blendend gelungen, doch der Patient ist tot“.8 Dass die Anwendung von Elektroschocks in der Psychiatrie kein Instrument vergangener Zeiten ist, sondern heutzutage, auch in Deutschland, einen Aufwärtstrend erlebt, belegt zum Beispiel ein in der Fachzeitschrift „Der Nervenarzt“ Nr. 5, im Jahr 2005 erschienener Rapport über die Entwicklung der „Elektrokonvulsionstherapie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität München“ in den Jahren 1995-2002.9 Als „Indikationen“ für die in diesen Jahren erfolgten Schockbehandlungen werden dort so gut wie alle relevanten psychiatrischen „Diagnosen“ (oder deren Obergruppen) angegeben.10

Zur psychiatrischen Gehirnchirurgie: Die Entwicklung und früheste Anwendung der sogenannten „Leukotomie“ oder „Lobotomie“ (1935/1936) wurde dem portugiesischen Neurologen und Politikern Egaz Moniz zugeschrieben.11 Während dieser noch umständlich zwei Löcher ins Schädeldach seiner „PatientInnen“ bohrte und dann mit einer Kanüle zu den Stirnlappen vordrang, übernahm der US-amerikanische Neurologe Walter Freeman die Idee von Moniz begeistert, „propagierte sie als den größten Fortschritt in der Therapie unheilbarer Geisteskrankheiten und perfektionierte sie so, dass der Eingriff von außen durch die Augenhöhle innerhalb von Minuten durchgeführt werden konnte“.12 Das heutzutage durch die Psychiatrie angewandte gehirnchirurgische Verfahren wird als „stereotaktischer Eingriff“ bezeichnet. Auch dieser Begriff ist ein psychiatrietypischer Euphemismus, denn auch mit der modernen Technik wird Gehirnmaterie zerstört, mit gravierenden und irreversiblen Folgen für die Opfer dieses Eingriffs. Über die Anwendung moderner psychiatrischer Hirnchirurgie gibt ein Artikel des US- amerikanischen „The Wall Street Journal“ vom 2. November 2007 Auskunft: Dort wird berichtet, dass chinesische PsychiaterInnen in den letzten Jahren in Gehirnoperationen an angeblich „psychisch Kranken“ (z.B. aufgrund der Diagnose „Schizophrenie“) ein großes Geschäft entdeckt haben und wie sie naiv- unwissende Eltern mittels aggressiver Propaganda dazu bringen, einzuwilligen, ihre Töchter und Söhne verstümmeln zu lassen und welche verheerenden Folgen das für diese zu Pflegefällen gemachten jungen Menschen hatte.13 In dem Artikel wird zunächst behauptet, dass psychiatrische Gehirnchirurgie in ganz China praktiziert werde, jedoch so gut wie überall in der sogenannten „entwickelten Welt“ auf der schwarzen Liste stünde. Erst später wird enthüllt, dass dies auch in den USA vorkommt — dort zwar nicht bei angeblicher „Schizophrenie“, jedoch bei der Diagnose „Depression“ und angeblichen „Zwangsstörungen” — im weiteren Vergleich zu China allerdings angeblich in zahlenmäßig viel kleinerer Dimension und angeblich nur, wenn die Betreffenden zur informierten Einwilligung in der Lage seien.

Ein Eindruck aus einem Bericht einer Langzeit-Gefangenen der forensischen Anstalt der „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“ aus dem Jahr 2000, Erdmuthe Theuermeister über die Auswirkungen und den ‚Sinn‘ psychiatrischer Zwangs“behandlung“:

„Der Maßregelvollzug basiert auf drei Säulen: Der Pharmakatherapie, der Psychotherapie und der Arbeitstherapie. In der Pharmakatherapie wird man mit Psychopharmaka abgefüllt. In der Psychotherapie kann man dann über die Schäden reden, die das verursacht und in der Arbeitstherapie muß man für 1,30 DM/Stunde arbeiten. Erwartet wird, daß man sich diesen drei Programmen widerstandslos unterwirft. Dann winken Vollzugslockerungen wie Ausgang und irgendwann die Entlassung in eine WG, wo dasselbe Programm durchgezogen wird wie im Maßregelvollzug. Ich mache nichts von alledem mit. Ich werde gewaltsam abgespritzt: 5 Leute packen mich, zerren mich in die Zelle, werfen mich aufs Bett, ziehen mir die Hosen runter und dann werde ich abgespritzt. Das wiederholt sich alle 4 Wochen. [Anm.d. Verf.: Hierbei handelt es sich um die Vergabe des Neuroleptikums Haldolin Form von langzeitig wirkenden Depotspritzen.] Ich wehre mich dabei so gut es geht. Die Spritzen haben eine verheerende Wirkung auf Körper und Geist. Ich habe keine Phantasie mehr. Meine Musikalität und Sexualität sind völlig zerstört. Meine Finger sind versteift. Der ganze Körper ist häßlich geworden. Es fließt keine Bioenergie mehr. Damit das alles geht, haben sie mir einen Betreuer vor die Nase gesetzt. Der Betreuer stimmt allem zu, was ich ablehne, also auch der Zwangsbehandlung. Wenn er das nicht macht, wird er abgelöst von einem Betreuer, der alles absegnet, was die Ärzte von ihm wollen.”14

„Fünf Pfleger stürmen die Zelle, halten mich fest, ziehen mir die Hosen runter. Der Arzt spritzt mich dann mit drei mltr Haldol oder mehr ab, ich kann das nicht kontrollieren. Ich versuche mich während der ganzen Prozedur so gut es geht zu wehren.
Ohnmächtige Wut, weil es mir nicht gelingt, mich zu verteidigen. Jede Spritze macht den Körper ein Stück mehr kaputt. Ich kann zusehen wie mein ehemals gesunder Körper nach und nach völlig entstellt und kaputtgemacht wird (…) Es gibt keine Nebenwirkungen. Die Zerstörung des Körpers ist das eigentliche Ziel. (…) Die Schergen wollen, daß ich das Zeug freiwillig einnehme, wie alle hier. Das wird ihnen nicht gelingen. Neuroleptika wirken wie eine ständige Fessel. Mit dieser Fessel versprechen sie uns die Freiheit. Ständig gefesselt und körperlich völlig kaputt sind wir dann auch nicht mehr ‘gefährlich’. Jeder Gutachter wird uns bescheinigen, daß wir krank sind und betreut werden müssen.”15

Andere Autoren analysierten ebenfalls diesen Effekt psychiatrischer Zwangsbehandlung, dass die Betroffenen körperlich zerstört werden. Durch die physischen Beeinträchtigungen werden sie zum einen gehindert, sich zu widersetzen und zum anderen erleichtert es der Psychiatrie, sie dahin zu bringen, dass sie ‚krankheitseinsichtig‘ werden (vgl. unten), denn nun können sich die Betroffenen erstmals tatsächlich ‚krank‘ fühlen. Daher sind auch die angeblichen „Nebenwirkungen“ und „negativen Begleiterscheinung“ der verabreichten Substanzen, der Elektroschocks und der psychiatrischen Gehirnchirurgie in Wirklichkeit die von der Psychiatrie erwünschten Hauptwirkungen.

Der Einsatz sowohl von Elektroschocks als auch von sogenannten „mind altering drugs“ („Psychopharmaka“), sind in nicht-psychiatrischen Foltergefängnissen weltweit verbreitete Instrumente, um Menschen zu foltern. Ebenso wird auch Isolationshaft offiziell als Foltermethode bewertet. Aufschlussreich wäre es auch, eine Kontinuität zu den veralteten Methoden psychiatrischer Behandlung zu ziehen. Diese erinnern zum Teil stark an die Bilder aus den berüchtigten Folterkellern des europäischen Mittelalters bzw. der frühen Neuzeit. Traditionelle psychiatrische Behandlung bestand unter anderem aus verschiedensten Methoden des Einsperrens (z.B. in Käfigen und ähnlichen Vorrichtungen) und Fesselns; aus Torturen wie Aufhängung; Einsatz von Rotationsmaschinen; akustischer und optischer Einwirkung, zum Beispiel durch Donnerschläge oder unangenehmes Licht; Kälte- und Wärmefolter; Stromschläge; Verabreichung von Ätzmitteln, Giftkräutern, Brechmitteln und Schlafmitteln. Des Weiteren galten Eingriffe in den Körper, wie zum Beispiel das Anbohren der Oberkiefernhöhle, Organamputationen, Kastration, Klitorisentfernung, Infizierung mit Krankheitserregern oder Aderlass, ebenfalls als „Therapie“ gegen „Geisteskrankheit“. Auf dem Gebiet der „psychologischen“ Einwirkung und der „schwarzen Pädagogik“ operierten die Psychiater darüber hinaus mit Demütigung, mit Androhung von Gewalt, mit Verprügeln, Auspeitschungen und Verbrennungen, sie ersonnen die vielfältigsten Arten, den „PatientInnen“ Ekel und Furcht einzuflößen, beispielsweise indem sie diese Insekten oder unangenehmen Materialien aussetzten oder Situationen erzeugten, die Todesangst hervorrufen.16 in diesem Sinne empfahl auch der ‚Vater‘ des Begriffs Psychiatrie, Johann Christian Reil, die Methode des Aufhängens und Aufziehens: „Der Eindruck wird um desto grausender seyn, je höher der Kranke, oder wenn er über Feuerbrände, über eine tobende See aufgezogen wird“.17

zu 2.) Ziel (und Mittel zum weitergehenden Ziel) ist die Äußerung eines Geständnisses bzw. eine Aussage

Als weiteres Element von Folter nennt die UN-Definition die Erwirkung eines Geständnisses oder einer Aussage. Im Falle der Zwangspsychiatrie ist das die Forcierung von „Krankheitseinsicht“ oder jedenfalls, die Betroffenen dazu zu zwingen, auszusagen, „psychisch krank“ zu sein. Während ihre (Folter-) Instrumente im Laufe der Zeit variierten, blieb der Geständniszwang eine wichtige Konstante der Zwangspsychiatrie. Der Philosoph Michel Foucault setzte sich in seinen Schriften und Vorlesungen mit den Machttechniken der Psychiatrie auseinander und erkannte in ihr einen Apparat der sozialen Kontrolle, der Aussonderung und Unterwerfung.18 in seiner Beschreibung einer Szene aus dem neunzehnten Jahrhundert tritt der psychiatrische Geständniszwang bemerkenswert unverhüllt zutage: „In einem 1840 veröffentlichten Werk über die moralische Behandlung des Wahnsinns berichtet ein französischer Psychiater, Louren, wie er einen seiner Patienten behandelt und – natürlich – geheilt hat. Eines Morgens stellt er einen Patienten A in einen Duschraum. Er läßt ihn sein Delirium detailliert hersagen. ‘Aber das alles‘ sagte der Arzt, ‘ist nichts als Wahnsinn. Versprechen Sie mir, das überhaupt nicht mehr zu glauben!’ Der Patient zögert, dann verspricht er es. ‘Das ist nicht genug’, antwortet der Arzt.
‘Sie haben mir schon ähnliche Versprechen gegeben und sie nicht gehalten.’ Und er dreht die kalte Dusche über dem Kopf des Patienten auf. ‘Ja, ja, ich bin wahnsinnig!’, schreit der Patient. Die Dusche wird zugedreht; die Befragung wieder aufgenommen. ‘Ja, ich gebe zu, daß ich wahnsinnig bin.’ wiederholt der Patient. ‘Aber’, fügt er hinzu, ‘ich gebe es zu, weil Sie mich dazu zwingen’. Wieder eine kalte Dusche. ‘Ja, ja’, sagt A, ‘ich gebe zu, ich bin wahnsinnig und das alles war nur Wahnsinn!’
Jemanden, der an einer Geisteskrankheit leidet dazu zu bringen, daß er zugibt, daß er wahnsinnig ist, ist ein altes Verfahren in der traditionellen Therapie. In den Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts findet man viele Beispiele für das, was man Wahrheitstherapien nennen könnte. Aber die von Louren angewandte Technik ist doch verschieden. Louren versucht nicht, seinen Patienten davon zu überzeugen, daß seine Ideen falsch oder unvernünftig sind. Was im Kopf von A passiert, interessiert Louren überhaupt nicht. Der Arzt wünscht, einen ganz bestimmten Akt zu erlangen, die ausdrückliche Aussage: ‘Ich bin wahnsinnig’. Seit ich vor ungefähr zwanzig Jahren diesen Passus von Louren gelesen habe, habe ich die Form und die Geschichte so einer bizarren Praxis analysieren wollen. Louren ist zufriedengestellt, wenn und nur wenn sein Patient sagt: ‘Ich bin wahnsinnig‘ oder ‘Das war Wahnsinn.’”19

Was Foucault hier als Lourens ‚moralische Behandlung‘ beschrieben hatte, gilt für die gesamte Zwangspsychiatrie, damals wie heute. Den PsychiaterInnen und ihren professionellen MitarbeiterInnen geht es lediglich darum, Menschen, die davon überzeugt sind, nicht „psychisch krank“/„geisteskrank“ zu sein, dazu zu zwingen, das Bekenntnis abzulegen, „psychisch krank“/ „geisteskrank“ zu sein. Sie signalisieren dadurch, dass sie somit auch einer „Behandlung“ bedürfen würden. Im Rahmen der Zwangspsychiatrie braucht es die PsychiaterInnen daher nicht zu interessieren, was die Menschen, von denen sie behaupten, dass sie „geisteskrank“/“psychisch krank“ seien, gedanklich und gefühlsmäßig bewegt. Es geht ihnen nicht darum, diese Menschen davon zu überzeugen bzw. ihnen aus ihrer Sicht zu erklären, weshalb etwaige oder angebliche „Wahnvorstellungen“ falsch seien.

Das Urteil der PsychiaterInnen ist gefasst, noch bevor sie auch nur einen Blick auf die angeblich „Kranken“ geworfen haben. Wenn sie eine „Diagnose“ erstellen wollen, dann können sie es qua ihrer Definitionsmacht immer tun (vgl. auch im nächsten Abschnitt). Kate Millett (s.u.) beschrieb so einen Erstkontakt mit einem Psychiater, den ihre Angehörigen gegen ihren Willen arrangiert hatten: „…während ich ihm höflich die Hand reiche, meine eigene zittert, was seine Augen mit Befriedigung festhalten. (…) Jede Frage - denn es ist ein Verhör und nicht eine Konsultation, noch viel weniger ein therapeutisches Gespräch oder auch nur etwas Annäherndes - jede Frage geht von der Überzeugung aus, daß ich verrückt bin.”20 PsychiaterInnen geben lediglich vor, ‚Patienten‘ von deren angeblichen Krankheiten „heilen“ zu wollen. Es gibt nichts zu heilen, weil sich die Psychiatrie nicht mit Krankheiten befasst, sondern mit menschlichen Verhaltens- und Denkweisen, die im medizinischen Sinne nicht ‚krank‘ sein können. Der psychiatriekritische Psychiater Thomas Szasz erläuterte diesen Umstand in „The myth of mental illness“ und seinem nachfolgenden Werk. Er legte dar, dass „Geisteskrankheit“ eine Metapher ist, so wie es eine ist, zu sagen, ein Witz sei ‚krank‘ oder die Wirtschaft.21 Insofern trifft der Ausdruck „moralische Behandlung“ auch zu, weil es darum geht, Menschen dazu zu bringen, Verhaltensnormen zu entsprechen. Es geht um Vorgaben angeblich ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Verhaltens, deren Sinn von den Betroffenen nicht verstanden werden soll, sondern denen sie sich unterwerfen sollen. Die Psychiatrie behauptet, angeblich „psychisch kranken“ Menschen fehle der „freie Wille“, sie könnten nicht erkennen, was ihr eigenes „Wohl“ sei und seien nicht „einsichtsfähig“. Demnach wäre es dann auch nicht möglich, mit Argumenten zur Einsicht zu bringen.

Diese Behauptungen werden mit wissenschaftlicher Autorität vorgetragen und verbreitet und anscheinend von der gesellschaftlichen Mehrheit wie ein Glauben angenommen. Gegenüber AbweichlerInnen wird dieser Glaube mit inquisitorischen Mitteln durchgesetzt. Die Zweifel, dass der eigene Verstand nicht stimmen könnte und ein Halbwissen um die Gewalt, die den Menschen innerhalb der Räume einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt angetan wird, haben auf die Menschen, die selber (noch) keinem psychiatrischen Zwang ausgesetzt waren, eine abschreckende Wirkung. Die im vorigen Unterabschnitt zitierte Frau Theuermeister ließ sich bis zuletzt weder zu einem Bekenntnis zur Krankheit noch zur „Behandlungswilligkeit“ zwingen, bezahlte ihren Widerstand jedoch dadurch, dass sie sehr viele Jahre in psychiatrischer Gefangenschaft verbrachte. Für das Ansehen der Psychiatrie als angebliche Institution der Heilung, der Hilfe und der Verbesserung der Befindlichkeit von Kranken würde allerdings diese Form offensichtlicher Ausübung brachialer Gewalt und langfristiger Freiheitsberaubung, die ihr bei Frau Theuermeister ‚blieb‘, in größerem Ausmaß nicht zuträglich sein. Um ihr Image als Betreiber von Krankenhäusern aufrecht zu erhalten, damit nicht ans Licht kommen könnte, dass es sich anstatt dessen um reine Gefängnisse und Folteranstalten handelt, ist das für die Psychiatrie beste Resultat ihrer Zwangsmaßnahmen, wenn die Betroffenen nicht nur „Krankheitseinsichtigkeit“ vorgeben, sondern sogar tatsächlich „krankheitseinsichtig“ geworden sind – im Sinne davon, dass die Betroffenen selber daran glauben, „geisteskrank“ zu sein. Je mehr sie das tun, desto größer ist ihre Kooperationsbereitschaft mit der Psychiatrie und desto eher unterziehen sie sich freiwillig der weiteren „Behandlung“. Für diese Kooperationsbereitschaft haben MedizinerInnen sogar einen Fachbegriff, sie nennen es „compliance“.

Zu 3.) Es wird eingeschüchtert, bestraft und genötigt

Die widerstandslose „Behandlungswilligkeit“, auch nach der Entlassung aus einer geschlossenen Anstalt, damit verbundene oder daraus resultierende Verhaltensänderungen bzw. das Befolgen von Verhaltensvorgaben, sind das weitere Ziel der Zwangspsychiatrie. Um dies zu erreichen, bedient sie sich verschiedener Methoden von Einschüchterung, der Verbreitung von Angst und Schrecken sowie der Bestrafung. Die Betroffenen werden aufgrund der erlittenen Einschüchterung und der Qualen dahin getrieben, genötigt und gezwungen, sich zur „psychischen Krankheit“ zu bekennen und sich den Vorgaben der Psychiatrie zu unterwerfen. Darüber hinaus wird Krankheitseinsichtigkeit und wie unter 2.) beschrieben, die Lehre bzw. Ideologie bzw. das Glaubenssystem der Psychiatrie durch Abschreckung und mit propagandistischen Mitteln in der Bevölkerung verbreitet. Der Kanadier Don Weitz, selber „Psychiatrie- Überlebender“, beschreibt die Zwangspsychiatrie in seinem Artikel „Notizen über den psychiatrischen Faschismus“ als ein System von „Angst“, „Terror“, „Gewalt“ und „Irreführung“. Weitz: „Die Androhung oder die Tatsache, seine Freiheit zu verlieren und in einer psychiatrischen Anstalt für Tage oder Monate eingeschlossen zu werden, ist furchterregend. Der minimale oder völlig fehlende Rechtsbeistand, der gegenwärtig in Ontario existiert, macht das Recht auf Berufung oder Protest zur Farce, und das führt zu einer noch verzweifelteren Furcht und Verzweiflung der Leute.“22

Auch in Deutschland können sich die Betroffenen rechtlich kaum gegen psychiatrische Zwangsmaßnahmen wehren. Es sei denn, sie schließen, wie seit dem 1.9.2009 durch die gesetzliche Regelung von Patientenverfügungen in Deutschland möglich geworden, mit einer bestehenden PatVerfü® die psychiatrische Begutachtung und Diagnosestellung und (somit auch) die Bestellung von „Betreuern“ und Zwangsbehandlung von vorneherein aus.23 Ansonsten haben die Betroffenen zwar vor der Fassung eines Unterbringungsbeschlusses pro forma das Recht auf eine richterliche Anhörung, auf einen Pflichtverteidiger („Verfahrenspfleger“) und das Recht, Widerspruch gegen den Beschluss einzulegen. Die Anhörung erfolgt jedoch in der Praxis, nachdem die Betroffenen bereits in eine geschlossene oder halboffene Station eingeliefert und dort in ‚Gewahrsam‘ gehalten und dabei unter psychiatrische Drogen gesetzt worden sind (vgl. Abschnitt I). Die Anhörung geschieht an Ort und Stelle, in Anwesenheit des Stationsarztes, welcher den/die Betroffene/n – häufig als zweiter sogenannter „Experte“ nach dem Amtsarzt – bereits ebenfalls als „nicht einsichtsfähig“ und „psychisch krank“ deklariert hat. Der Definitionsmacht der PsychiaterInnen zu trotzen und einen Gegenbeweis für deren Willkür-„Diagnosen“ zu erbringen, ist in dieser Situation nahezu unmöglich. Gert Postel, der die Psychiatrie jahrelang darin täuschte, ein ‚echter‘ Psychiater zu sein, kam zu folgender Feststellung: „Sie können mittels der psychiatrischen Sprache jede Diagnose begründen und jeweils auch das Gegenteil und das Gegenteil vom Gegenteil“, „Bestimmte Symptome unter bestimmte Begriffe zu subsumieren, kann auch jede dressierte Ziege.“24 und „Wer die psychiatrische Sprache beherrscht, der kann grenzenlos jeden Schwachsinn formulieren und ihn in das Gewand des Akademischen stecken“.25 So habe Postel einmal einen ‚Kollegen‘ gefragt: „was mache ich denn, wenn der Patient schweigt?“ - Darauf antwortete dieser: „Dann schreiben sie eben, er hat eine symptomschwache autistische Psychose“.26 Oder es wird „gute Fassade“ diagnostiziert, das heißt unterstellt, die/der Betroffene tue nur so, als sei sie/er nicht „krank“.27 Die Betroffenen gelten dann als „krankheitsuneinsichtig“ und nicht „compliant“. Selbst wenn eine/r versucht, sich „krankheitseinsichtig“ zu zeigen, in der Hoffnung, die Verurteilung abzumildern oder später schneller entlassen zu werden, kann sich das gegen ihn/sie wenden, indem „vorgetäuschte Krankheitseinsicht“ diagnostiziert wird.28 Für einige der Betroffenen ist außerdem noch nicht einmal das Recht auf persönliche Teilnahme an der Anhörung garantiert. Ohne PatVerfü® hilft es auch in den seltensten Fällen, Widerspruch einzulegen und sich mit einem eigenen Anwalt, statt dem ebenfalls befangenen, amtlich bestellten Verfahrenspfleger, zu verteidigen - denn wie soll ein Rechtsanwalt beweisen, dass die „Diagnose“ eines sogenannten „psychiatrischen Facharztes“ falsch ist? Die zuständigen Gerichte folgen dann so gut wie immer den Gutachten der PsychiaterInnen und entscheiden auf (einstweilige) Unterbringung. Ebenso verhalten sich RichterInnen in Entmündigungsverfahren.

Insgesamt können alle unter Punkt 1.) angeführten Leiden und Schmerzen bzw. allein die Drohung damit einschüchternd wirken. Die ahnende oder wissende Aussicht auf die durch Zwangspsychiatrie bewirkten emotionalen und sozialen Folgen und der körperlichen Schäden bzw. das Wissen um eine mögliche Wiederholung von bereits durch Zwangspsychiatrie erlebter Leiden oder noch schlimmeren Qualen, kann große Furcht bei den Betroffenen erzeugen.

Gehirnwäsche mittels psychiatrischer Ideologie wird wie folgt praktiziert: Gestützt durch ihre Autorität in Gesellschaft und Wissenschaft, reden PsychiaterInnen und Krankenhauspersonal auf die Insassinnen ein, die – eingesperrt, der Gewalt ausgeliefert, je nachdem bereits unter der Wirkung von psychiatrischen Drogen stehend und beeinträchtigt, dazu noch möglicherweise ohnehin durch eine zum Zeitpunkt der Ankunft in der psychiatrischen Anstalt schwierigen Lebenslage geschwächt – sich in einer ohnmächtigen Lage befinden. Häufig unter nicht zu unterschätzender Beteiligung von Angehörigen der Betroffenen, werden diese eingeschüchtert mit der Behauptung, vielleicht sogar lebenslang „psychisch krank“ zu bleiben, wenn sie die angeblichen „Medikamente“ nicht nehmen. Auch die Angst davor, als „kriminelle/r Geisteskranke/r“ zu gelten und in eine Anstalt der psychiatrischen Forensik weggesperrt zu werden, ist ein großer Faktor der Einschüchterung.

Für den Fall der Verweigerung von Kooperation oder gar bei Leistung von Widerstand steht die Drohung weiterer (und gar noch schlimmerer) Gewalt und der Verlängerung des Aufenthaltes in der Geschlossen im Raum. Diejenigen, die zum Beispiel auf Station (oder sogar ambulant durch eine Blutprobe) dabei erwischt werden, „ihre“ Tabletten nicht genommen zu haben, denen wird die Substanz mittels einer Depotspritze verabreicht. Don Weitz dazu: „Die Institution Psychiatrie nimmt häufig Zuflucht zu erpresserischen Mitteln, um den sehr ‚unkontrollierbaren‘ und schwierigen Patienten, also den Patienten mit geringer ‚Compliance‘, unter Kontrolle zu bekommen. Psychiater und andere Therapeuten drohen ihren Patienten mit verlängerter Haftdauer, höheren Dosen der zwangsverabreichten Neuroleptika oder ‚Antidepressiva‘, und/oder mit der gefürchteten Verlegung in noch schlimmere Hochsicherheitsabteilungen, falls diese nicht tun, was man von ihnen verlangt, wenn sie ihre ‚Medikamente‘ nicht nehmen, wenn sie sich nicht an die Anstaltsregeln halten, oder wenn sie ihre Wärter in anderer Weise ärgern. Allgemein angewendet auf Gemeinschaften gefangener, unfreiwilliger Patienten lösen diese Drohungen bei vielen Angst aus, und die Psychiater wissen das. […]. auch die Bedrohung von Patienten mit körperlicher Fesselung oder Einzelhaft ist außerordentlich effektiv, um Angst oder Panik bei den Patienten auszulösen. In so gut wie jeder psychiatrischen Station oder Abteilung gibt es einen Ort, den man euphemistisch den ‚Ruheraum‘ nennt, einen kargen, verbotenen, Zellen-ähnlichen Raum, mit einer Matratze oder Waschbecken, gewöhnlich gibt es keine Toilette und keine Bettdecke. Während sie im Ruheraum dahinsiechen, sind die Patienten oft noch zusätzlich gefesselt mit Ledermanschetten, Zweipunkt- und Vierpunkt-Fesseln, stramm um ihre Handgelenke und/oder Fußgelenke gespannt, so daß sie sich kaum bewegen können, so liegen sie da mehrere Stunden lang.“

Überdies werden viele wahrscheinlich wissen, dass bei angeblich besonders schweren „Fällen“ auch der Elektroschock droht. Don Weitz: „Allein schon die Drohung einer erzwungenen psychiatrischen Behandlung kann, ebenso wie die Behandlung selber, entsetzlich sein – z.B. Elektroschock, auch als Elektrokonvulsions-Therapie (EKT) bezeichnet, von Schock-Überlebenden und -Kritikern wie Leonard Frank treffender Elektrokonvulsions- Gehirnwäsche genannt. Mein guter Freund Mel hat mir erzählt, wie er mit diversen Hilfsmitteln durch den Gang zum Schockraum der Klinik geschleift wurde. Ich kann mir seine Panik vorstellen und die Panik der anderen, denen das selbe Schicksal zuteil wurde. Ein ähnlich schreckliches Erlebnis hatte ich, als ich zwangsweise über 50 Subkoma Insulinschocks in den 1959ern erhielt.“ Peter Breggin berichtete das Selbe: „Der Elektroschock wirkt auch deshalb, weil er Angst und Schrecken verbreitet. Es ist so, wie einer meiner guten Freunde, den man elektrogeschockt hat, gestern zu mir gesagt hat: ‘Nach dem ersten Schock hätte ich alles getan, um entlassen zu werden. Ich machte dann alles, was sie von mir wollten’“.29

Breggin untersuchte des Weiteren, wie Einschüchterung und Gedächtnisverluste durch Elektroschockserien innerhalb konfliktreicher sozialer Beziehungen wirkten: „Ein Ehemann sagte von der Schockbehandlung: ‘Das haben sie gut gemacht da‘, weil der Verlust des Langzeitgedächtnisses seiner Frau die Zeitperiode umspannte, in der sie mit ihm in Konflikt stand und depressiv war. […] Drei von zehn Frauen lebten jahrelang nach der EKT in Schrecken, und daher unterließen sie es, irgendein ärgerliches Gefühl gegenüber ihren Ehemännern auszudrücken, aus Angst, zu einer unfreiwilligen Schockbehandlung ins Krankenhaus zurückgeschickt zu werden.“30

InsassInnen von geschlossenen Anstalten sind den gängigen und alltäglichen Praktiken des Terrors und der Strafen durch das Personal hilflos ausgeliefert, das für diese schweren Verstöße gegen (Menschen-)Rechte praktisch nie zur Rechenschaft gezogen wird. „Maßnahmen“ wie Besuchsverbote, Ausgangsverbote, Einsperren in Isolierzimmer, Wegnahme von persönlichen Gegenständen, Verbot, sich tagsüber ins Bett zu legen oder etwa abends in einer friedlichen Runde zu singen, werden – wenn überhaupt – als „therapeutische“ Interventionen oder sachliche Notwendigkeiten, die sich im Rahmen der Gesetze befinden würden, begründet. Die Gefangenen erfahren zudem Schikanen wie Beleidigungen, Bloßstellen, Nicht-ernst-nehmen und Sich-lustig-machen durch das Personal. Die mit der angeblichen „Geisteskrankheit“ der Betroffenen begründeten Verbote werden von den Betroffenen hingegen als willkürlich und auch als Bestrafung erkannt. Doch „Verrückten“ wird häufig noch nicht einmal von Angehörigen geglaubt, wenn sie von erlittenen Demütigungen berichten und falls sie doch in der glücklichen Lage sind, dass ZeugInnen Beweismaterial wie Fotografien anfertigen, laufen diese in Gefahr, dass sie mit dem Verweis auf das Hausrecht Besuchsverbot bekommen oder gar das Beweismaterial beschlagnahmt wird.31

Die amerikanische Schriftstellerin, Künstlerin, politische Aktivistin und bekannte Vertreterin der Frauenbewegung Kate Millett beschreibt mit „Der Klapsmühlentrip“ (im englischen Original „The loony bin trip“, veröffentlicht 1990) in Romanform die eigene Geschichte ihrer Psychiatrisierung und wie sie sich am Ende von internalisierter psychiatrischer Ideologie befreit. Sie macht darin ebenfalls deutliche politische Aussagen über das System der Zwangspsychiatrie und der Allmacht der PsychiaterInnen mit ihren Methoden der Einschüchterung, der Erzwingung von „Krankheitseinsicht“, der Bestrafung und Disziplinierung. Zitate daraus: „Der Arzt hat beschlossen, daß ich mit niemandem sprechen, niemandem schreiben darf.“32 „Leute mit meiner Einstellung zu Elektroschocks könnten sie leicht als Strafe bekommen; mangelnder Glaube macht die Verantwortlichen feindselig; die Batterie von Ärzten, und Krankenschwestern, die sehr nette Person, die sich so gerne deine Geschichte anhören würde - all diese autoritären Elemente, deren Ton und Auftreten sich beim geringsten Widerstand zusammenzieht, starr wird, und das Gefängnis offenbart sich. Dann gibt es keine Besuche, kein Telefon, keinen Ausgang. Und Zwang, Gurte...“.33 Millett veranschaulichte, wie es ist, zwar aktuell aus der geschlossenen Station entlassen, aber nun womöglich für immer mit einer psychiatrischen „Diagnose“ behaftet zu sein, die ihre Person, die sie als Subjekt negiert und mit der sie der ständigen Bedrohung durch Zwangspsychiatrie ausgesetzt ist: „Was wäre, wenn ich meine Daten in Besitz nehmen oder sogar löschen könnte? Wenn nicht, wird mich dieses ‘Nimm dein Medikament’ den Rest meines Lebens verfolgen, als wäre ich nur auf Bewährung frei. Ich werde jedem, der meine Geschichte kennt und die Behörden gegen mich anrufen kann, ausgeliefert sein. Ein paar Monate ohne Lithium und ohne durchzuknallen könnten sie eines Besseren belehren, könnten meine Normalität beweisen. Eigentlich absurd, der Beweis ist nicht zu erbringen, doch die Aufhebung des Urteils gegen mich würde mein Ich wiedergeben, würde mich von der allgegenwärtigen Anklage des Wahnsinns befreien. Mit der ich jederzeit zum Haftantritt gezwungen werden kann.“34 „Ich begann, mich vor Angst und Einsamkeit aufzulösen. In dem verzweifelten Bemühen, mich vor dem Selbstmord zu schützen – was mir als der logische nächste Schritt erschien, (…) und lieferte meinen Verstand, meine Seele, mein Ich aus. Ich suchte ‚Hilfe‘, wurde Lithiumpatientin und führte von da an ein beschütztes Leben. Ein ungesunder Verstand wie meiner mußte ruhiggestellt und mit einem Medikament versiegelt werden“.35 Erneut in der Geschlossenen, vermerkt sie: „Du lernst, einen angenehmen Eindruck zu machen, und hast deinen Schwur gebrochen, niemals mit dem Personal zu sprechen, immer nur mit den PatientInnen. Der Mechanismus eines Konzentrationslagers und die kleinen Privilegien. Wohlig ist es, weich. Du hast deine Zigaretten und deine Glotze, ein bißchen Lesestoff aus den Zeitungen.“36

Das System der Psychiatrie funktioniert mit „Peitsche“ und auch mit „Zuckerbrot“. Die Misshandlungen dienen als ein Mittel, den Willen und den Widerstand der Betroffenen zu brechen und langfristig Krankheitseinsicht und Behandlungswilligkeit zu erzeugen. Gleichzeitig bietet die (Gemeinde-)Psychiatrie soziale Treffpunkte, „Kontakt- und Beratungsstellen“ mit Kaffekränzchen, Kochrunden, Spielenachmittagen, Feste feiern, usw., wo sie die Betroffenen weiter kontrollieren kann. Dabei nutzt die Psychiatrie die Hilfsbedürftigkeit der Betroffenen aus, welche sie selber produziert (hatte). Für die nach wiederholten Zwangsunterbringungen und der Verleumdung als „psychisch Kranke“ im psychiatrischen System verharrenden und bereits lange aus ihren ehemaligen sozialen Zusammenhängen ausgegrenzten Menschen sind die psychiatrischen Einrichtungen oftmals ihr einziges „Zuhause“. Des Weiteren stellt die Psychiatrie neben dem Zwang auch materielle Leistungen für die Menschen in Aussicht, welche sie zuvor arm oder gar auch obdachlos gemacht hat und die diese auf anderem Wege schwerlich bekommen würden. So lassen sich auch Menschen aus eigenem Antrieb unterbringen, damit sie auf Station etwas zu essen bekommen.

Selber „krankheitsuneinsichtig“ und nicht-„compliant“ gebliebene Psychiatrie-Erfahrene im Werner-Fuß-Zentrum sprechen in einer öffentlichen Erklärung mit dem Titel „Das kolonialisierte Subjekt“ von der Erzeugung desselben: „Das Ende der Martern nur um den Preis sogenannter ‘Krankheits’-einsicht führt in Verbindung mit falschen Hilfsversprechen zu einer breiten Akzeptanz individualisierter Wahrnehmung der Unterdrückung. Gleichzeitig wird eine falsche Hoffnung auf Wiedererlangen der eigenen Würde durch Identifikation und vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem kolonialisierenden Apparat erzeugt“.37 Auch Millett spielte mit dem Gedanken, sich in vorauseilendem Gehorsam Verhaltensnormen anzupassen, in der Hoffnung, dann in Ruhe gelassen zu werden: „Wie jeder, der einmal in Gefangenschaft war, mußt Du, nachdem Du wieder frei bist, dich entschließen, ob Du das Risiko einer Wiederholung in Kauf nehmen oder kapitulieren willst. Wenn Du ruhig in Dein Leben zurückkehrst, kannst Du normalerweise die Gefahr vermeiden.”38 (Millett schaffte es am Ende, sich aus der verinnerlichten Kolonialisierung zu befreien.)

Zu 4.) Gehandelt wird auf Grundlage von Diskriminierung

Die Diskriminierung besteht aus der Etikettierung von Menschen als „geistig krank“ („Geisteskranke/r“) oder im heutigen Sprachgebrauch „psychisch krank“ (bzw. als „psychisch Kranke/r“) oder auch „psychisch gestört“ („psychisch Gestörter“) und der zwangsweisen Vergabe von entsprechenden psychiatrischen „Diagnosen“ wie sie vor allem im durch das internationale Klassifikationssystem für Krankheiten ICD (“International Classification of Diseases”) angeführt sind. (Die Psychiatrie verwendet das Kapitel V in der aktuellen Version ICD-10, in welchem angebliche „Psychische und Verhaltensstörungen“ als „Diagnosen“ F00-F99 verschlüsselt sind.) Die Erstellung psychiatrischer „Diagnosen“ sind gesetzliche Voraussetzung für die gerichtliche Genehmigung jeglicher psychiatrischer Zwangsmaßnahmen. Mit der Diskriminierung geht also weitgehende Entrechtung einher, welche die elementaren Grundrechte und Menschenrechte der Betroffenen verletzt. Die Unterscheidung von Menschen und „Geisteskranken“ macht die letzteren zu Menschen zweiter Klasse, für die Sondergesetze gelten. Beziehungsweise den so psychiatrisierten Menschen wird aufgrund der Diskriminierung bzw. Entrechtung ihr Menschsein an sich abgesprochen, welches sich durch die Wesensmerkmale Würde, eigener Wille und der Fähigkeit zur eigenen Urteilsbildung, Selbstverantwortlichkeit und Selbstbestimmung auszeichnet. Beispielhaft ist die im Betreuungsrecht verwendete Definition eines „freien Willens“, der durch die „Einsichtsfähigkeit des Betroffenen und dessen Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln“ gekennzeichnet sei. „Psychisch Kranke“ besäßen demnach keinen „freien Willen“. Die Diskriminierung ist Grundlage und Voraussetzung für die Deklarierung von Gewalt und – sollte die These dieser Abhandlung zutreffen – von Folter als ‚reguläre‘ medizinische Handlungen.

Zu 5.) Die Leiden und Schmerzen werden auf Veranlassung und mit ausdrücklichem Einverständnis von Angehörigen des öffentlichen Dienstes bzw. in amtlicher Eigenschaft handelnden Personen und auf Basis staatlicher Gesetze verursacht

Psychiatrische Zwangsmaßnahmen (zwangsweise „Unterbringung“, zwangsweise „Behandlung“, zwangsweise Entmündigung durch „Betreuung“, etc.) werden durch staatliche Gesetze (siehe Abschnitt I) legitimiert und werden auch von „in amtlicher Eigenschaft handelnden Personen“ (wie es in der Antifolterkonvention heißt), ausgeführt. Zu letzteren sind zum Beispiel Angehörige des sozialpsychiatrischen Dienstes im örtlichen Gesundheitsamt zu zählen, welche die Erstgutachter für eine Zwangseinweisung stellen. Ebenso gehören zu dieser Personengruppe die von den Vormundschaftsgerichten eingesetzten „Betreuerinnen“ wie auch die Richterinnen und StaatsanwältInnen selbst. Psychiatrische Einrichtungen und somit ihr Personal arbeiten im Auftrag des Staates: in jedem Bezirk muss es aufgrund staatlicher Verordnung geschlossene Stationen geben, welche die per Gerichtbeschluss zur zwangsweisen Einsperrung abgeurteilten Menschen nach öffentlichem Recht aufnehmen müssen. Darüber hinaus sind diejenigen Einrichtungen bzw. ihr Personal als verlängerte Arme der staatlich beauftragten psychiatrischen Gewalt zuzurechnen, die sich als Teil des sogenannten ‚gemeindenahen Versorgungssystems mit ambulanten und komplementären Diensten‘ verstehen. So formuliert es die Pinel-Gesellschaft, ein ‚sozial‘- und gemeindepsychiatrischer Träger verschiedener Einrichtungen in Berlin: „Die Versorgung von psychisch Kranken ist eine gesetzliche Aufgabe der örtlichen Gesundheitsdienste. Diese beauftragen in der Regel freie Träger und vereinbaren mit ihnen Mitwirkung an der Pflichtversorgung“.39 Des Weiteren ist die Polizei als Exekutive und Amtshelferin zu nennen, welche berechtigt ist, Betroffene aufgrund eigener Vorurteile oder aufgrund ärztlicher oder gerichtlicher Anordnung, beispielsweise aus ihrer Wohnung heraus, unter Einsatz von Gewalt in eine psychiatrische Anstalt zu verbringen.

III. Diskussion und Fazit

Die im letzten Satz der UN-Folterdefinition angeführte Bedingung war: „Der Ausdruck umfasst nicht Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit verbunden sind.“ Wie hier mehrfach angeführt, steht die gesamte Zwangspsychiatrie in der Tat auf gesetzlicher Grundlage. Doch wenn dies der einzige Grund wäre, weshalb die oben beschriebenen Formen und Auswirkungen psychiatrischen Zwangs keine Form von Folter sein können, könnte in jedem totalitären System, unter jedem totalitären Regime weiter gefoltert werden. Ein Folterstaat bräuchte nur die allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu unterschreiben und damit ihre Einhaltung heucheln. In Bezug auf die Zwangspsychiatrie ist dies jedenfalls auch in den sich demokratisch nennenden Ländern geschehen. Das UN-Hochkommissariat selbst hatte in Stellungnahmen zur UN-Behindertenrechtskonvention, die der Entrechtung auch als „psychisch krank“ deklarierten Menschen nun endlich ein Ende machen soll, im Oktober 2008 und im Januar 2009 festgestellt, dass es sich bei den psychiatrischen Zwangsgesetzen um menschenrechtswidrig unhaltbare Sondergesetze handelt. Es konstatierte, diese seien „intrinsisch diskriminierende“ und daher „ungesetzliche“ Gesetze und daher „zu beseitigen“40

Auch Methoden, die keine sichtbaren Spuren hinterlassen, sind international als ‚weiße Folter‘ anerkannt. Dass allein die Androhung von Schmerzen oder Leiden als Foltermethode angesehen werden kann, war ein Ergebnis der Debatte um den Frankfurter Polizeipräsidenten Daschner, die im Jahr 2002 begann. Marc Rufer machte 1992 darauf aufmerksam, dass die selben Methoden, wenn sie gegen politische Gefangene und andere DissidentInnen eingesetzt werden, als Folter erkannt werden – wenn sie hingegen im Rahmen der Psychiatrie angewandt werden, dann gelten sie nicht mehr als Folter: „Viele Dissidenten in der früheren Sowjetunion wurden u.a. mit den Neuroleptika Chlorpromazin (Largactil) und Haloperidol (Haldol) ‘behandelt’. Auch in vielen Gefängnissen der ganzen Welt werden diese Medikamente eingesetzt. […]. Werden psychiatrische Behandlungsmethoden außerhalb der psychiatrischen Anstalt (oder der Praxis des Psychiaters) angewendet, funktionieren sie nicht mehr als ‘Therapie’ sondern klar erkennbar als Folter.”41

Auch Heiner Bielefeld, der damalige Direktor des „deutschen Instituts für Menschenrechte“ (das dann 2008 noch während seiner Leitung von MenschenrechtlerInnen in „deutsches Institut für Regierungsgefälligkeiten“ unbenannt wurde)42, lehnte in einem Interview für den „Dissidentenfunk“ am 3.9.2005 die Bezeichnung von psychiatrischer Zwangsbehandlung als eine Form von Folter ab. Er begründete dies damit, dass ein „wesentliches Kriterium von Folter“ nicht gegeben sei: „die ‚Fremdnützigkeit‘ also die Verzweckung eines Menschen zugunsten anderer, zugunsten von Einschüchterung, zugunsten von Aussagengewinnung“.43 Seine Gesprächspartner vom „Dissidentenfunk“ wandten daraufhin ein, dass andere „an der Tätigkeit der Psychiatrie verdienen“ könnten, „sie verdienen auf alle Fälle ihr Gehalt damit“, „Fremdnützig ist es auf alle Fälle für den Arzt, der der Herrscher der Situation ist … Er hat sein Haus voll, er kann es sozusagen beliebig voll machen, weil er Zwang anwenden kann“.44 Bielefeld präzisierte auf diesen Einwand hin seinen Standpunkt: „Mit der Fremdnützigkeit ist Folgendes gemeint: Der Eingriff als solcher, ist im Falle der Folter die Instrumentalisierung des Menschen und zwar die ausschließliche, die völlige Verdinglichung des Menschen zu fremden Zwecken. Dass wir alle einander instrumentalisieren, insofern, als wir miteinander verkehren, um irgendwie auch Geld zu verdienen, ja – das ist einfach Bestandteil menschlichen Lebens. Es geht um die Total-Verdinglichung dadurch, dass jemand einer Situation unterworfen wird, wo sein Wille völlig zerstört wird, völlig gebrochen wird und zwar zu Zwecken anderer. Das ist sozusagen der Phänomenbereich, der Definitionskontext von Folter, das sind die Definitionsmerkmale der Folter, die Total-Verzwecklichung eines Menschen, der zugunsten Dritter ausgeliefert ist, was immer das im Einzelnen sein mag, und zwar so, dass es dem Staat direkt oder indirekt zugerechnet werden kann. Und die Psychiatrie ist nicht per Definitionem Folter, mit Sicherheit nicht.“45

In derselben Ausgabe des Magazins „Die Irren-Offensive“ Nr. 13 (2006) ist ein Gespräch von René Talbot mit Wolf-Dieter Narr veröffentlicht, bei dem die beiden Gesprächspartner zu ebenjenem Schluss kommen, dass dieses von Bielefeld zentral genannte Merkmal von Folter in der Zwangspsychiatrie gegeben ist. „Der Geständniszwang macht die psychiatrische Zwangsbehandlung zur Folter“.46 Wie hier auch im vorigen Abschnitt beschrieben, zielt die „Ausübung von psychiatrischem Zwang“ zunächst einmal auf die „Erreichung eines Geständnisses oder einer Aussage“.47 „Der Zwangspsychiatrie geht es um die Unterwerfung des Subjekts unter die ärztliche Definitionsmacht, die bestimmt, was krank und was gesund ist. Und nachträgliche Legitimation dessen, was der Psychiater als ‚Therapie‘ bezeichnet.“48 „Bei Informationen kommt es ganz offensichtlich in Abu Ghuraib oder sonst wo nicht auf die Frage an, ob die etwas sagen, was der CIA oder andere nicht wissen – die wissen schon alles“.49 Ebenso verhält es sich mit den Zwangs-PsychiaterInnen – die ‚wissen‘ ebenfalls schon alles. Die „objektivierende Funktion“ sei die Hauptsache: „Die wollten nicht wissen, was sie noch nicht wussten, sondern sie wollten, in dem sie ihr Opfer etwas fragten und in dem sie etwas von ihm herausfinden wollten, durch die Art, wie sie dies herausfinden wollten, ihn zum puren Objekt, (…) machen, zum Fleisch, das sozusagen aus schier Erpresstem besteht.“50 Wie hier in Abschnitt II. im Einzelnen gezeigt, bemächtigt sich die Zwangspsychiatrie auf verschiedenen Ebenen des Körpers und des Willens der Betroffenen. Unter Zwang, höchster Not und Schmerz sagen die Gefolterten irgendwann, was die PsychiaterInnen hören wollen: Sie seien „psychisch krank“. Welche „Diagnose“ im Einzelnen gewählt wird, liegt in der Macht und der Willkür des/der jeweiligen PsychiaterIn und die Zwangsdiagnostizierten haben keinerlei Einfluss darauf. Sich selber so unter Zwang als ‚geisteskrank‘ erklären, ist eine Selbstverleumdung. Mit der „Krankheitseinsicht“ werden die gefolterten Personen rundweg verfügbar „für den Folterer und seine Auftraggeber“. 51 Der Wille soll gebrochen werden und die gefolterte Person soll sich unterwerfen. Das Ergebnis ist also auch nicht die Vernichtung des Subjekts, sondern es geht um „die Kolonialisierung des Subjekts. Sein Wille soll ganz der des Unterwerfenden sein. In diesem Sinne ist dann das angestrebte ‚Produkt der Folter‘ das Opfer, das ‚Compliance‘ mit dem Täter zeigt. Psychiatrie, die versucht, mit Zwang diese Compliance herzustellen, muss deshalb als verfeinerte Foltertechnik bezeichnet werden.“52

Eben diese verfeinerte Foltertechnik ermöglicht es, die Zwangspsychiatrie nicht als Foltersystem, sondern als Einrichtungen der medizinischen Versorgung erscheinen zu lassen. Dass die durch die Folter gebrochenen Personen nicht nur Krankheitseinsicht vorgeben, sondern am Ende auch glauben, „krank“ zu sein, ist die effektivste Voraussetzung dafür, dass diese langfristig kooperieren und kontrolliert werden können. Die Annahme psychiatrischer Ideologie und die Krankheitseinsichtigkeit ermöglicht es der Psychiatrie, ihre Gewalt sogar unter der Maske von „Hilfe“ zu verstecken. Die Zwangspsychiatrie tarnt sich im Einzelnen mit euphemistischen Begriffen wie „Elektrokonvulsionstherapie“ für Elektroschock, „Betreuung“ für Entmündigung/Vormundschaft oder im vorigen Jahrhundert sogar mit „Euthanasie“ bei systematischem Massenmord. In Analogie zu Ernst Klees danach folgenden Bemerkung: PsychiaterInnen sagen im Rahmen der Zwangspsychiatrie „behandeln“, wenn sie foltern. Ernst Klee: „Der nahezu unaussprechliche Höhepunkt deutscher Psychiatriegeschichte: sie sagten ‚behandeln‘, wenn sie mordeten“53. Zunächst wurde in Deutschland vor dem Hintergrund der Theorien psychiatrischer Eugenik die Vernichtung angeblich zu „psychischer Krankheit“ führender Erbanlagen angestrebt und auf Grundlage des 1933 verabschiedeten „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ bis 1945 versucht, durch die Zwangssterilisation von rund 400.000 angeblichen Trägerinnen dieser Erbanlagen in die Tat umzusetzen. Ab 1939 bis 1949 folgte die totale physische Vernichtung von Erwachsenen und Kindern. Der systematische Massenmord durch Gas, Giftspritzen und zu Tode hungern lassen wurde nicht offen, sondern auf heimlichem Wege vollzogen. (Weiterführende Literatur zu den Kontinuitäten der Zwangspsychiatrie und ihrer biologistischen Ausgrenzungsideologie: siehe Faulstich 1998, Friedlander 1997, Halmi 2008 und Klee 1983)54

Edward Peters, der sich in seinem Buch „Folter. Geschichte der peinlichen Befragung“ mit Wesen und Zweck der Folter befasst, konstatiert, dass Folter als „Ausdruck der Auffassung einer Regierung über die staatliche Ordnung“ gesehen werde.55 Ziel der Folter könne auch sein, den Willen des Opfers zu brechen, damit es sich einem System und einer Ideologie unterwirft.56 Dabei setzt „Jede Ideologie [...] ein Menschenbild voraus, eine Vorstellung davon, was menschliche Wesen sind und wie mit ihnen umgegangen werden muß, um die Gesellschaft aufbauen zu können, die die jeweilige Ideologie fordert“.57

Noch einmal Marc Rufer: „Die Dissidenten der Sowjetunion setzten sich über soziale Normen hinweg. Ihr Verhalten konnte mit guten Gründen als uneinfühlbar und ‘asozial’ bezeichnet, und folglich psychiatrisiert werden. Es ist somit ein Gemeinsames zwischen der ‘Behandlung’ der ‘geisteskranken’ Insassen unserer Anstalten und derjenigen der sowjetischen Dissidenten gegeben. (…) der Betroffene soll falschen, kritischen und subversiven Ansichten abschwören und konforme übernehmen. Gehirnwäsche also hier wie dort.”58

Dass es zwar formal die Möglichkeit gibt, sich juristisch zu wehren, in der Praxis jedoch so gut wie keine Chancen bestehen, vor Gericht gegen die Meinungen der sogenannten psychiatrischen GutachterInnen, die als „Fachärzte“ verstanden werden, anzukommen, markiert die Zwangspsychiatrie umso mehr als ein totalitäres (Folter-)System.

Nun zur Frage der Vorsätzlichkeit, die in der UN-Definition von Folter gegeben sein muss bei der Erzeugung von Schmerzen und Leid der Gefolterten: Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass die aus der Zwangspsychiatrie resultierenden Leiden und Schmerzen der Betroffenen vom psychiatrischen Personal zumindest bewusst in Kauf genommen werden, denn dieses hat sowohl das medizinische Fachwissen über die Schmerzen und Leiden, die aus der Zwangsbehandlung entstehen als auch das empirische Wissen aus der Beobachtung der Leidenden aus nächster Nähe und durch die Äußerungen und Beschwerden, die ihnen zugetragen werden. Auch in der Öffentlichkeit (in Medien, auf Veranstaltungen, etc.) verteidigen PsychiaterInnen und andere den Zwang und bewerten seine Wirkung als vorrangig gegenüber den Leiden, die sie den Betroffenen damit zufügen. Nach all dem, was bisher angeführt wurde, ist jedoch auch zu schlussfolgern, dass die auf Grundlage staatlicher Gesetze und staatlichen Auftrags zugefügten Leiden und Schmerzen bei den Betroffenen vorsätzlich herbeigeführt werden. Zunächst, um zu unterwerfen und Gehorsam zu erreichen, um dann den Interessen und Zielen derjenigen, die direkt und indirekt von der Zwangspsychiatrie profitieren, zu entsprechen und den politischen und gesellschaftlichen ‚Auftrag‘ der Psychiatrie zu erfüllen.

Fazit: Die Zwangspsychiatrie ist ein totalitäres System, welches aufgrund von staatlich legalisierter Folter und Terror funktioniert.


Anmerkungen

1 Anläßlich eines Besuches im Vorfeld des Foucault-Tribunals gab Professor Helmchen von der Psychiatrie der Freien Universität Berlin 1998 zu, dass er zwangsweise Elektroschocks verabreicht (vgl. 








, René: Geisteskrankheit gibt es nicht. Die Irren gehen in die Offensive. Interview in: ätzettera, Nr. 35, Mai 2002). Sonstige Schockverfahren wie Insulin- und Cardiazolschock sowie psychiatrische Gehirnchirurgie sind hingegen in Deutschland weniger bzw. nicht mehr üblich.

2 Lehmann, Peter: Der chemische Knebel. Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen. Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag: Berlin 1990, Seite 64

3 Breggin, Peter: Giftige Psychiatrie. Band 1. Heidelberg: Carl Auer Verlag 1996, Zitate Seite 89 + 91

4 Freeman zitiert bei Lehmann 1990: 64

5 Bschor, Tom/Grüner, Steffen: Psychiatrie. Börm Bruckmeier Verlag: Grünwald 2006,Seite 116ff.

6 Detaillierte Beschreibung der Wirkweise von Neuroleptika siehe: Lehmann, Peter: Derchemische Knebel. Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen. Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag:Berlin 1990 (überarbeitet 2005)

7 Bschor/Grüner 2006: 44

8 Hemingway, Ernest zitiert bei Lehmann 1990: 81

9 Baghai, T.C./Marcuse, A./ Möller, H.-J./ Rupprecht, R.: Elektrokonvulsionstherapie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität München. Entwicklung in den Jahren 1995- 2002. In: „Der Nervenarzt“ Nr. 5, Springer Medizin Verlag 2005, Seite 597- 612

10 vgl. Baghai/Marcuse/Möller/Rupprecht 2005: S. 603. Auch im Lehrbuch von Tom Bschor und Steffen Grüner findet sich entsprechender Hinweis: „Elektrokrampftherapie(EKT): Hauptindikation für die EKT ist heute die therapieresistente Depression. (…) Auch bei Schizophrenie und Manie wirksam.“ (Bschor/Grüner 2006: 44)

11 vgl. u.a. Feldmeier, Hermann: Lobotomie. Gehirnchirurgie mit dem Eispickel. Frankfurter Rundschau (online), 5.6. 2008

12 Feldmeier 2008; vgl. auch Berhorst, Ralf: Frühe Neurochirurgie. Hirn-OP mit dem Eispickel. Der Spiegel (online), 5.7.2008.

13 vgl.: Zamiska, Nicholas: Harsh treatment. In China, Brain Surgery is Pushed on the Mentally Ill. Irreversible Procedures Rarely Done Elsewhere; A Mother's Regrets. In: The Wall Street Journal (online) vom 2. Nov. 2007.

14 Theuermeister, Erdmuthe : Statement anläßlich der Vernissage der Ausstellung „The Missing link“ in der Volksbühne Berlin, 2000. URL: http://www.dissidentart.de/bilder_tumarkin/erdmuthe.htm

15 Theuermeister, Erdmuthe : „Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug“. Erfahrungsbericht, verlesen im Dissidentenfunk 2005. URL: http://www.dissidentenfunk.de/archiv/s0501/t05/print

16 Die gesamte Auflistung „traditioneller“ psychiatrischer Behandlungsmethoden ist entnommen aus Lehmann 1990: 13 ff.

17 Reil, Johann Christian zitiert bei ebd.: 57

18 Siehe: Foucault, Michel: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesung am Collége de France1973-1974. Herausgegeben von Jacques Lagrange. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005; Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Merve: Berlin 1976; Wahnsinn und Gesellschaft. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1969

19 Leider ist der Verfasserin dieses Artikels das Buch und sein Herausgeber, aus dem das Zitat von Michael Foucault stammt, unbekannt, da ihr die zitierte Passage lediglich als Fotokopie vorliegt.

20 Millett, Kate: Der Klapsmühlentrip. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1993, Seite 48

21 Szasz, Thomas „The myth of mental illness“, 1960 Erstveröffentlichung als Artikel in: American Psychologist, Band 15 und gleichnamiges Buch 1961. Deutsche Buchausgabe: Szasz, Thomas: Geisteskrankheit, ein moderner Mythos? Kindler: München 1975

22 Weitz, Don: Notizen über den psychiatrischen Faschismus. (Aus dem Englischen übersetztvon Heinz Kaiser). Copyright 2001 by Don Weitz 2001. URL: www.antipsychiatry.org/ge-weitz.htm

23 siehe: www.patverfue.de

24 Postel, Gert: „Das kann auch eine dressierte Ziege“ in Focus online 05.08.2009

25 Postel, Gert zitiert bei Gert Postel- Gesellschaft: http://www.gert-postel.de

26 Postel, Gert: 25. Jubiläum der Irren-Offensive. Festrede am 26.11. 2005. In: Die Irren-Offensive Nr. 13, Berlin 2006, Seite 4

27 Talbot, René/ Narr, Wolf-Dieter: „Der Geständniszwang macht die Zwangsbehandlung zur Folter“. René Talbot und Wolf-Dieter Narr im Gespräch. In: Die Irren-Offensive Nr.13, Berlin 2006, Seite12

28 vgl. ebd.

29 Breggin, Peter: Auf dem Weg zum Verbot des Elektroschocks. Protokoll der Anhörungdes Psychiaters Peter Breggin vor dem San Francisco City Services Committee vom November 1990, Seite 162

30 Breggin, Peter: Giftige Psychiatrie. Band 1. Heidelberg: Carl Auer Verlag 1996, Seite:293

31 vgl. Talbot, René u.a.: Berichte aus der Wirklichkeit (Veröffentlicht in der Zeitschrift„Streetworker“ - Ausgabe Winter 2004) und Ergänzung mit einem Bericht von Martin J. aus dem Jahr 2003. URL: http://www.psychiatrie-erfahren.de/berichte.htm

32 Millett, Kate: Der Klapsmühlentrip. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1993, Seite 296

33 Millett 1993: 77

34 Ebd.: 36

35 Ebd.: 14

36 Ebd.: 297

37 Plenum des Werner-Fuß-Zentrums: Erklärung „Das kolonialisierte Subjekt“. In: Die Irren-Offensive Nr. 11, Berlin 2003, S.11

38 Millett 1993: 77

39 Pinel- Gesellschaft (2): Gliederung der Angebote. URL: http://www.pinel-online.de/index.php?id=aktionsbereiche

40 Aus dem Englischen übersetzte Zitate aus: UN- Hochkommissariat für Menschenrechte (UNHCHR): „Dignity and Justice for Detaineesweek“ [6.-12. Oktober 2008]. Information Note No. 4, Seite 2 und Annual report of the United Nations High Commissioner and the Secretary General“. A/HCR/10/48, 26.1.2009, Seite 16

41 Rufer, Marc: Biologische Psychiatrie und Elektroschock. Für ein Verbot des Elektroschocks. In: Widerspruch – Beiträge zur sozialistischen Politik (Zürich), 12. Jg. (1992),Heft 23, S. 113 - 124.

42 siehe: http://www.zwangspsychiatrie.de/kampagnen/un-behindertenkonvention

43 Bielefeld, Heiner in der Dissidentenfunksendung: „Warum psychiatrische Zwangsbehandlung Folter ist“. Jan Groth und René Talbot für den Dissidentenfunk im Gespräch mit Heiner Bielefeld am 3.9.2005. In: Die Irren-Offensive Nr. 13, Berlin 2006, Seite 10

44 Dissidentenfunk-Reporter in der Sendung: „Warum psychiatrische Zwangsbehandlung Folter ist“. Jan Groth und René Talbot für den Dissidentenfunk im Gespräch mit Heiner Bielefeld am 3.9.2005. In: Die Irren-Offensive Nr. 13, Berlin 2006, Seite 10

45 Bielefeld, Heiner am 3.9.2005 (Dissidentenfunksendung)

46 Talbot, René/ Narr, Wolf-Dieter: „Der Geständniszwang macht die Zwangsbehandlung zur Folter“. René Talbot und Wolf-Dieter Narr im Gespräch. In: Die Irren-Offensive Nr.13, Berlin 2006, Seite 11

47 ebd.

48 ebd.

49 Narr, Wolf-Dieter in ebd.

50 Narr, Wolf-Dieter in ebd.

51 vgl. Talbot, René in ebd.: 11/12

52 Talbot, René in ebd.: 12

53 Klee, Ernst: „Wer Täter ehrt, mordet ihre Opfer noch einmal“. Vortrag, gehalten am 6. August 1999 am PI der Universität Hamburg: http://www.irren-offensive.de/rede_ernstklee.htm

54 Faulstich, Heinz: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Lambertus: Freiburg im Breisgau 1998; Friedlander, Henry: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung. Berlin Verlag: Berlin 1997; Halmi, Alice: Kontinuitäten der (Zwangs-) Psychiatrie. Eine kritische Betrachtung. Berlin 2008. Inhaltsverzeichnis und Download: www.irrenoffensive.de/kontinuitaeten.htm; Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Fischer: Frankfurt am Main 1983

55 Peters, Edward: Folter. Geschichte der peinlichen Befragung. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991, Seite 10

56 Peters 1991: 208

57 ebd.: 210

58 Rufer 1992


Zur Autorin

Alice C. Halmi ist Diplom-Politologin und in der Irren-Offensive aktiv.

Der Text ist auch im Buch "Irren-Offensive - 30 Jahre Kampf für die Unteilbarkeit der Menschenrechte", Verlag AG SPAK BÜCHER veröffentlicht