Zu allen genannten Aktivitäten der Irren-Offensive und des Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener gibt es ausführliche Informationen unter, www.psychiatrie-erfahrene.de, www.freedom-of-thought.de und www.antipsychiatrie.de, wo auch die Internet Ausgabe der Irren-Offensive veröffentlicht ist. Die Zeitung kann man auch gegen Vorkasse von 3,50 Euro auf das Konto der Irren-Offensive e.V. mit dem Kennwort Nr.10 und der Angabe der Lieferadresse bestellen.


Geisteskrankheit gibt es nicht
Die Irren gehen in die Offensive

Um der Zwangspsychiatrie endlich den Garaus zu machen und um der eigenen Demütigung und Wut einen Ausdruck zu verschaffen, gründeten für verrückt Erklärte 1980 die Irren-Offensive. Franziska Lauter sprach mit dem langjährigen Mitglied René Talbot über Menschenrechte und wie schnell man sie verlieren kann.


ätzettera: Wie ist denn die Irren-Offensive entstanden?
René Talbot: Wir wollten politisch aktiv werden. Mit dem Konzept, dass ausschließlich für »Verrückt«  erklärte Menschen an den Entscheidungen beteiligt sind, finden wöchentliche Plenumssitzungen statt, bei denen jeder der sich selbst als psychiatrisch verleumdet bezeichnet, gleichberechtigtes Mitglied ist.
Anfang der 80er Jahre wurde von uns ein Haus besetzt, das zur »Verrücktenburg« werden sollte, aber um einem Konflikt mit der Polizei aus dem Wege zu gehen, haben wir es 1983 geräumt. Danach wurde aus einer wilden Gruppe ein gemeinnütziger Verein. Dadurch sind auch die ganzen Strukturen mit Vorstand und Abrechnung entstanden, aber es kam auch eine Senatsförderung, so dass wir 1983 ganz versteckt im Hinterhof in der Pallasstraße Räume beziehen konnten. 1994 kam es allerdings zu einer totalen Sperre unserer Mittel seitens des Senats, und wir mussten die Pallasstraße aufgeben. 1995 beteiligten wir uns intensiv am Aufbau des Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg, mit dem die Irren-Offensive sehr eng kooperiert.
Anfang 1996 konnten wir nur aus eigenen Spendenmitteln wieder Räume in Friedrichshain zusammen mit dem Landesverband und dem Beschwerdezentrum beziehen. Wir einigten uns auf den Namen »Werner-Fuß-Zentrum«. Mittlerweile hoffen wir wieder auf eine Senatsförderung.

ätzettera: Sind auch Jugendliche dabei?
Talbot: Jüngere sind nicht so viele dabei, eher zwischen 25 und 40.

ätzettera: Welche Ziele verfolgt Ihr?
Talbot: Die Abschaffung der Zwangseinweisung und damit auch der Zwangsbehandlung, das ist das Allerwichtigste. Dass man über seinen eigenen Körper selber verfügt, wie jeder über 18, und das heißt, dass keiner ohne ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen in den Körper eindringen darf. Das heißt auch, dass das eben nicht unter einem medizinischen Vorwand, weil es einem angeblich gut täte, untergraben werden darf. Die Position der Ärzte macht sie zu Herrschenden, die über andere verfügen können, über ihren Körper und Geist durch Zwangsmaßnahmen und zwangsweise verabreichten Drogen. Das ist eine brachiale und fundamentale Menschenrechtsverletzung! Prof. Szasz hat schon Anfang der 60er ein Buch veröffentlicht The myth of mental illness (Der Mythos der Geisteskrankheit). Er war der erste Psychiater im System, der gesagt hat, dass es Geisteskrankheit noch nie gegeben hat und sie eine reine Metapher ist. Der Begriff Krankheit ist an den Körper gebunden, und es gibt bis heute keinen einzigen Nachweis von einer Veränderung im Körper, die angeblich Geisteskrankheit wäre.
Der klare Unterschied ist, dass wenn es eine hirnorganische Krankheit wäre, es eine neurologische Krankheit wäre und eine Neurologie hat keine geschlossene Station. Daran kann man sofort sehen, dass Psychiatrie als Teil der »Medizin« ein reines Lügenkonstrukt ist. Wenn abnormes Verhalten, das vielleicht nicht erwünscht ist, von den Mächtigen in der Familie oder in der Gesellschaft trotzdem bestraft werden soll, ohne dass eine kriminelle Tat vorliegt, dann kommt die Psychiatrie ins Spiel. Dann wird die Psychiatrie als Institution genutzt um einen einzusperren, und wenn man dann eingesperrt ist, wird man mit praktisch körperverletzenden Zwangsbehandlungen folterartig behandelt.

ätzettera: Gibt es denn eigentlich noch Elektroschocks?
Talbot: Ja, gerade in Berlin war die FU-Psychiatrie sozusagen das führende Institut dafür. Anläßlich des Foucault-Tribunals haben wir dort einen Besuch gemacht und Prof. Helmchen hat klar zugegeben, dass er mit Gewalt und unter Zwang schockt. Früher wurden Elektroschocks bei angeblicher »Schizophrenie«, um eine Epilepsie nachzuahmen, angewandt, jetzt bei angeblicher Depression. Und da die Richter von den Ärzten beschwatzt werden, ist es auch in der Regel recht schwer anfechtbar, weil es mit einer richterlichen  Zustimmung passiert ist.
Aber das ist nur eine Facette. Das Grundübel ist, dass eingesperrt werden kann. Es steht immer als Drohung im Raum. Und sobald man sich an irgendeinen Psychiater wendet, ist klar, dass er im Zweifelsfall auch Gewalt hinzuziehen kann. Das wird dann zwar rhetorisch kaschiert mit »Fremd- und Eigengefährdung«, was aber auf jeden zutreffen kann. Es gibt auch so absurde Begriffe, wie »gute Fassade«, was bedeutet: »wirkt normal, ist aber tatsächlich verrückt!«.
Um wieder raus zu kommen, muss man »Krankheitseinsicht« zeigen, wobei Psychiater aber auch behaupten können, dass diese vorgetäuscht sei. Durch die »Krankheitseinsicht« soll die vorhergegangene Behandlung und Folter eben eingesehen und legitimiert werden, die notwendig gewesen sei, weil man ja krank gewesen sei. Das ist deren Logik: alles ein völlig willkürliches System.
Ein Punkt, der in der Bevölkerung  immer viel diskutiert wird sind z.B. die sogenannten Triebtäter. Das Interessante ist, dass bei bestimmten Verbrechen einfach behauptet wird, das wäre dem Wahnsinn oder der »Geisteskrankheit« zuzuschreiben, dabei ist es natürlich völliger Quatsch, denn es ist ein Verbrechen und keine Krankheit.

ätzettera: Was habt Ihr bis jetzt so gemacht, wie agiert Ihr?
Talbot: Unsere Zeitung Irren-Offensive gibt es jetzt schon seit 21 Jahren. Wir haben inzwischen zehn Ausgaben rausgebracht. Seit sieben Jahren findet der T4-Umzug statt. Mit ihm gedenken wir eines Teils der deutschen Geschichte, der völlig unbekannt ist. Bekannt sind die Massenmorde in Auschwitz usw. Diese hatten allerdings eine Vorgeschichte in den deutschen Psychiatrien, wo genau dieses Gaskammermordsystem an sechs Orten hier in Deutschland entwickelt und getestet wurde. Der T4-Umzug beginnt vor der Gedenkstätte Tiergartenstraße 4, wo eben dieses Massenmorden anfing und die Mordzentrale war, und von dort aus ziehen wir zur nächstgelegenen Psychiatrie in der Charité. Das machen wir seitdem jedes Jahr am 2. Oktober.
Im Frühjahr 1998 fand in der Berliner Volksbühne das Foucault-Tribunal zur Lage der Psychiatrie statt, das wir mitveranstalteten. Es gab Ankläger, die eine klar definierte Anklage hervorbrachten und eine Verteidigung sowie eine Jury. Dabei gründeten wir auch den Lehrstuhl für Wahnsinn, für den ich an der Freien Universität Berlin dozierte.
Eine wichtige Aktion fand auch am 50. Jahrestag der Menschenrechtserklärung statt. Wir haben die in Reinickendorf ja bekannte Karl-Bonhoeffer-Klinik, die nach einem Nazi-Unrechtsarzt benannt ist, da er an den Zwangssterilisationen beteiligt war, umbenannt in Lady-Diana-Clinic.
Letztes Jahr hatten wir dann das Russell Tribunal zur Frage der Menschenrechte in der Psychiatrie mit einer prominenten Jury und vielen Zeugen. Das alles ist im Internet dokumentiert (siehe Randkasten). Da kann man sich alles anhören.
Ein wichtiger Teil unserer Arbeit war auch die Erstellung einer Vorsorgevollmacht. Das heißt, wenn man unter den Umständen, dass man volljährig und nicht in die Klapse eingewiesen ist, eine Vorsorgevollmacht an jemanden ausstellen kann und einen Vertrag mit ihm abschließt, in dem drinsteht, dass der Bevollmächtigte auf keinen Fall einer Einweisung in die Geschlossene und keiner Medikamenten- oder Drogenverabreichung ohne Zustimmung des Bevollmächtigenden zustimmen soll. Dazu braucht man noch einen überwachenden Anwalt, damit das alles ganz dicht wird. Dann kann dich kein Richter oder Arzt mehr festhalten.
Der Bevollmächtigte kann sofort deine Verlegung auf die offene Station bewirken. Dort ist alles freiwillig und man kann gehen, wann man will. Damit ist das ganze Zwangssystem eigentlich gekippt. Leider ist es noch zu unbekannt. Man kann es jedem nur dringend empfehlen. Unter www.vo-vo.de kann man sich die Formulare holen und sich noch weiter darüber informieren.

ätzettera: Wie stellst du dir die Zukunft der Psychiatrie vor? Was wäre deiner Meinung nach ein guter Weg?
Talbot: Das ist ganz einfach, es darf nur keine Geschlossenen mehr geben, es darf keinen Zwang geben. Wenn man die Überwachung will und an die Diagnose glaubt, kann man sich immer einsperren lassen. Natürlich gibt es auch verzweifelte arme Menschen, die zum Beispiel Asyl brauchen, weil sie auf der Straße rumirren. Da sind freiwillige Hilfsangebote das Richtige. Das sind alles ganz normale Dinge und es hat nichts damit zu tun, dass man jemanden seine geistigen Fähigkeiten abspricht und seine Seele für krank erklärt und damit zum Untermenschen macht. Hilfe muss einverständlich sein, sonst ist es Zwang!

Das Gespräch führte Franziska Lauter

(aus: ätzettera Nr.35/Mai 2002)