Redebeitrag anläßlich des Symposium
zum 80ten Geburtstag von
Thomas Szasz am 15.4.2000
an der Universität in Syracuse, NY, USA

Die politische Wirkung
von Thomas Szasz' Werk
Zwei Beispiele aus Deutschland

René Talbot

Sehr verehrte Damen und Herren,

Thomas Szasz hat insbesondere auch in einem politischen Koordinatensystem einen neuen Nullpunkt geschaffen.

Seine fundamentale Neubestimmung des mentalen Erlebens, des Geistes als Entität, die eine andere Art des Sprechens darüber erzwingt, als alle körperlichen und objektivierbaren Phänomene, verschiebt, damit automatisch einhergehend, fundamentale Bestimmungen der politischen Topographie: Mit der Forderung nach dem uneingeschränkten Recht eines Menschen auf seinen Körper, ein radikal ernst genommenes Folterverbot, kommt es zu einer Verschiebung der Verhältnisse des Staats zu seinen Bürgern: vordergründig verliert der Staat nur sein therapeutisches Privileg, grundsätzlich allerdings wird der Bürger als Rechtssubjekt in dramatischer Weise gestärkt. Die Implikationen dieser Veränderung, die meistens nur geahnt werden, sind meiner Ansicht nach der Grund dafür, daß so viel erbitterter Widerstand dagegen geleistet wird.

Um es noch einmal zu betonen: Thomas Szasz will nur ein Psychiater sein, aber tatsächlich ist er ein Volkstribun. Gesetzliche Änderungen stehen im Zentrum von Thomas Szasz´ Werk - gesetzliche Änderungen, die in einem Rechtsstaat das Produkt eines politischen Diskurses sind, an dessen Ende sich eine Mehrheit im Parlament wird finden müssen.

Um nicht mit noch mehr Abstraktionen fortzufahren, ein Bericht wie sich dieser Topos in politischer Praxis niederschlägt.

Zwei Beispiele aus unseren Bemühungen in Deutschland:

1) In Deutschland ist der Durchbruch gelungen, das spröde System der Zwangspsychiatrie hat an einer unscheinbaren Stelle den entscheidenden Sprung bekommen: Möglicherweise ist die gesetzliche Grundlage auch in anderen Ländern gegeben, so daß unser Modell übertragbar ist.

In Deutschland gilt das sog. Subsidaritätsprinzip, das heißt, wenn private Organisationen bestimmte Wohlfahrtsaufgaben übernehmen, zieht sich der Staat aus diesem Bereich zurück, ja die privaten Organisationen haben Vorrang vor den öffentlichen. Dieses Prinzip ist an einem bestimmten Punkt individualisiert worden: seit 1. Januar 1999 ist gesetzlich geregelt, daß keine Betreuung mehr eingerichtet werden kann, wenn die fragliche Person mit einer sog. Vorsorgevollmacht eine andere Person bevollmächtigt hat, für sich Entscheidungen zu treffen. Dies gilt für den Fall, daß sie medizinisch für inkompetent erklärt wird, bzw. infolge einer schweren Erkrankung ihre Angelegenheiten nicht mehr regeln kann, z.B. Komapatienten oder nach einem schweren Schlaganfall usw. Diese gesetzliche Neuerung haben wir, die Irren-Offensive, zusammen mit einem Rechtsanwalt jetzt dafür genutzt, daß wir uns untereinander bevollmächtigen und zwar insbesondere für den Fall, daß eine psychiatrische Zwangsmaßnahme gegen einen ergriffen werden sollte.

Die Vorsorgevollmacht tritt dann im Außenverhältnis sofort in Kraft. Im Innenverhältnis schließen wir einen Vertrag ab, in dem festgeschrieben ist, daß der Bevollmächtigte unter keinen Umständen psychiatrische Zwangsmaßnahmen wie Einsperrung in einer geschlossene Station, Zwangsbehandlung, Fixierung und so weiter zustimmen darf. Im Gegenteil, sobald ein solcher Versuch gemacht werden sollte, sofort eine Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung und gegebenenfalls Körperverletzung gegen die beteiligen Ärzte bzw. Klinik gemacht wird.

Diese Vorgehensweise und die neue rechtliche Situation haben wir allen psychiatrischen Chefärzten in Deutschland zugefaxt, können also beweisen, daß sie über die veränderten Verhältnisse informiert sind.

Damit ist die Zwangspsychiatrisierung für diejenigen, die sich so untereinander bevollmächtigen unmöglich geworden. Sie können nur noch nach konkreten Straftaten in "normalen" Gefängnissen interniert werden, genau das was Thomas Szasz fordert. Wir empfehlen dringendst, bei der gerichtlichen Anordnung eines psychiatrischen Gutachtens, absolut keinerlei Äußerung mehr zu machen, so daß der psychiatrische Gutachter, wenn er ehrlich ist, nur noch festhalten kann, daß er die Person nicht untersuchen konnte. Damit besteht am ehesten noch die Chance, nach einer Straftat nur in einem normalen Gefängnis verknastet zu werden und nicht in der Forensik auf unbestimmte Zeit und mit folterartiger Zwangsbehandlung weggesperrt zu werden.

Die psychiatrischen Sondergesetze sind in Deutschland ein Teil des Familienrechts und Vormundschaftsgerichte entscheiden. Die privatrechtliche Unterbringung durch einen Betreuer nach Bundesgesetzlicher Regelung hat Vorrang vor der öffentlich rechtlichen Unterbringung nach einem psychisch Krankengesetz als Länderrecht. Damit ist die Vorsorgevollmacht, die einer Betreuung vorrangig ist, ein stärkeres Recht, als eine Zwangseinweisung nach Psychisch Krankengesetz und in Deutschland bricht Bundesrecht Landesrecht.

Ein letzter Hinweis: dadurch, daß ein Anwalt unseres Rechtsanwältenetzes als Organ der deutschen Rechtspflege als Überwachungsbevollmächtigter die letzte Kontrolle über den Bevollmächtigten hat, kann kein Gericht die Bevollmächtigung mehr außer Kraft setzen - dies kann nur der Rechtsanwalt bei mißbräuchlicher Ausübung der Vollmacht durch den Bevollmächtigten.

Sie sehen, die Regelung nach unserem Muster ist wasserdicht.

Selbstverständlich ist dieses Vorgehen nur ein Zwischenschritt bevor alle psychiatrischen Sondergesetze abgeschafft sind und psychiatrische Gewalt und diagnostische Verleumdung durch eine positive psychiatrische Vorausverfügung vom Betroffenen selbst autorisiert sind: selbstverständlich darf man niemanden verbieten, sich einsperren zu lassen, auspeitschen zu lassen oder z.B. Gewichte an die Brustwarzen hängen zu lassen - selber autorisierte Folter ist selbstverständlich ein zulässiges Spiel und eine positive psychiatrischen Vorausverfügung schafft für die zwangsbehandelnden Ärzte eine strafrechtlich unbedenkliche Grundlage.

2) die Bertrand Russell Peace Foundation hat ein Russell Tribunal on Human Rights in Psychiatry autorisiert. Dieses Tribunal könnte nach meiner Einschätzung das, was ich den Legitimationsschleier der Psychiatrie nenne, zerstören: der Kaiser wird als genauso nackt erkannt werden, wie er im Märchen von des Kaisers neue Kleider ist.

Das erste Russell Tribunal wurde von Earl Bertrand Russell, dem Lehrer und "Gegner" von Ludwig Wittgenstein und Jean Paul Satre zur Frage der Kriegsverbrechen der US Regierung in Vietnam 1967 veranstaltet. Also vor den Studentenunruhen. Die US Regierung war aufgefordert, sich zu verteidigen, ignorierte aber das Tribunal. Meiner Meinung nach hat es den folgenden studentischen Protest entscheidend den Rücken gestärkt. Die moralische Kraft eines solchen Tribunals, das "Crime of Silence" zu zerstören, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Angeklagt wird die World Psychiatric Asociation. Sie wurde über die Planung des Tribunals durch Handouts an die Teilnehmer ihres letzten Weltkongresses in Hamburg informiert. Der Beginn des Tribunals soll nächstes Jahr am 30.6., 1. und 2.7. in Berlin sein. Dabei wird außer der Verlesung der Anklageschrift die Geschichte der Psychiatrie einen Schwerpunkt bilden. Eine Geschichte, die genau in Berlin die Vollendung ihrer inneren Logik erfahren hat: im systematischen Massenmord in den Psychiatrie - der Erfindung der Gaskammer als "Duschraum" in der sog. "Aktion T4". Das Personal, die Technik und dieselbe Ideologie wurden danach in das besetze Polen zur Errichtung der Vernichtungslager exportiert - der Nazispezifische Holocaust, die Gasmordfabrik, kommt aus der Psychiatrie, er ist ein medizinisches Verbrechen, wie Thomas Szasz es schon 1977 beschrieben hat. Kurz gesagt: "Nicht die Nazis haben die Ärzte gebraucht, sondern die Ärzte die Nazis" (Ernst Klee).

Der Zeitpunkt des Tribunals ist bewußt so gewählt, daß es gleichzeitig mit dem 7. Weltkongress der internationalen Biologischen Psychiatrie in Berlin tagt.

Als zweite Station des Tribunals ist New York als Sitz der UNO, des Garanten der Menschenrechte, geplant. Es soll dort einen juristischen Schwerpunkt geben.

Der Abschluß des Tribunals soll in Jerusalem stattfinden. Dort soll Ideology and Belief, Censorship und Stigmatisation verhandelt werden, das was Thomas Szasz die "Theologie der Medizin" genannt hat und sich mit der Psychiatrie als deren inquisitorischen Abteilung, beschaftigt hat. Am Schnittpunkt dreier Weltreligionen soll ein Urteil gefunden werden.

 

Wie gesagt, in der Fallinie von Thomas Szasz´ Forderungen liegen große politische bzw. gesellschaftliche Veränderungen, während vordergründig der Staat "nur" sein therapeutisches Privileg verliert.

Ich persönlich ziehe aus Thomas Szasz´ Werk folgende vier politische Ausblicke:

a) Ein konsequentes Recht auf den eigenen Körper stellt die allgemeine Wehrpflicht in Frage. Warum sollte man noch gezwungen werden können, sich für den Staat töten zu lassen?

Ein weiterer zentraler Machtapparat des Staates verliert an Legitimität, was die Zivilisierung der Kultur vorantreiben würde. Insofern paßt auch der Pazifist Bertrand Russell als Namensgeber für unser Tribunal.

b) Wenn man eine Stellung gegen die Biologisierung des Mentalen einnimmt, könnte damit die herkömmliche Ideologie der Elternschaft angegriffen sein.

Mich hat dieser Gedanke auf die Idee gebracht, Elternschaft vorrangig sozial zu bestimmen, also jedes Kind wird von den Eltern adoptiert, sie haben nur eine vorrangige Option auf ihr leibliches Kind - Elternschaft wird in einer Entscheidungszeit nach der Geburt ein rein freiwilliger Akt durch Bekenntnis zum neugeborenen Kind per Unterschrift unter einen Geburtsvertrag. Erziehungsberechtigung würde zur Erziehungsverpflichtung.

c) Ich saß vor 3 Jahren mit Tom Szasz im Auto und fragte ihn, wie in "Cruel Compassion" seine Verwendung des Begriffs des "Parasiten" zu verstehen sei. Sofort und spontan antwortet er: "You have to love your parasites!" Voll ins Schwarze getroffen!

Ich wende das Parasitäre ins Positive und behaupte, daß das Parasitäre bei einer sich ins Unglaubliche steigernden Produktivität die einzige Entwicklungsmöglichkeit der Marktwirtschaft ist. Sonst wird die Wirtschaft immer verrückter und braucht immer mehr Beschäftigungstherapie.

Wir sind dabei, eine Kampagne zu starten, die darauf hinauslaufen soll, daß in Deutschland die Arbeitsbereitschaft kein Kriterium mehr wäre, unbefristet Sozialhilfe zu erhalten, und daß der Arbeitszwang aufgehoben wird.

Oder als kurze Parole: Auch wer nicht arbeiten will, muß essen dürfen!

d) Vielleicht am weitreichendsten: Die Fundamente der Wissenschaftskirche könnten auf Treibsand gebaut sein. Wenn es prinzipiell keine Geisteskrankheit gibt, sind alle Erfahrungen prinzipiell gleichrangig. Sie mögen unpraktisch sein, aber sie sind nicht prinzipiell diskriminierbar. Genau das ist allerdings in den Naturwissenschaften, die nicht nur mit Mind-Brain, eine beherrschende Stellung eingenommen haben, der Fall: Erfahrung wird nur als sog. nichthalluzinatorische Erfahrung gelten gelassen. Also hat das Schwert der Macht die Erfahrung geteilt - in die der Wahnsinnigen und die der Nichtwahnsinnigen. Sobald diese Linse der Macht als Verzerrungsfaktor zerfallen ist, wird der "objektiven" Naturwissenschaft zentral der Teppich, auf dem sie steht, weggezogen und sie fällt.

Empirie ohne Psychiatrie wird lyrisch und tritt aus den normierenden Kathegorien heraus.

Mit all diesen Anregungen zu sozialer Phantasie, die Tom Szasz uns gegeben hat, vermute ich, daß er auch ein sehr europäischer Denker geblieben ist.
Gilt nicht für sein Werk, daß er eine Interpretation eines Wortes von Marx geleistet hat, die die Welt verändert?
"Die freie Entwicklung des Einzelnen ist die Bedingung für die freie Entwicklung aller."

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

HOME
Impressum