Hans Peter Dreitzel

Drogen für alle


Beitrag zum "Symposion mit Thomas Szasz - Grausames Mitleid - Panoptismus / Psychiatrie / Kerkersystem"
Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin, 26.-28.Juni 1997.



1 .
Drogen sind allgegenwärtig. Fast alle machen Gebrauch von ihnen. Einige von uns sind süchtig. Andere werden unfreiwillig unter Drogen gesetzt. Wieder andere bekommen nicht die Drogen, die sie nehmen wollen.
Drogen im hier gemeinten kultursoziologischen Sinn sind natürliche und synthetische Pharmaka (also Heilmittel), die zu veränderten Bewußtseinszuständen führen.

2.
Mensch und Droge gehören anthropologisch zusammen. In allen Kulturen suchen Menschen von Zeit zu Zeit, ihr Bewußtsein zu verändern, aus dem Gefängnis ihres Alltagsbewußtseins herauszukommen, eine andere Perspektive zu gewinnen. Sie wollen die Realität anders erfahren: sie wollen sich betäuben oder sie wollen sich wecken, wacher werden, sie wollen sich berauschen oder sie wollen stocknüchtern werden. Das heißt, das Bewußtsein kann in Richtung Betäubung, in Richtung Wachheit und in Richtung Rausch verändert werden. Betäubung und Wachheit sind die beiden Pole eines Kontinuums, Rausch und Nüchternheit die Pole eines anderen Kontinuums, das quer zu jenem steht. Das normale Alltagsbewußtsein hegt in der Mitte zwischen den Polen dieser beiden Kontinua.

3 .
Jeder dieser vier Richtungen, in denen sich das Alltagsbewußtsein verändern kann, entspricht ein bestimmtet Typus von Drogen: Beruhigungs- und Betäubungsmittel, Wachmacher und Aufputschmittel, Rauschdrogen und Ernüchterungsmittel. Um Beispiele zu nennen: Opiate (also auch Heroin) und Barbiturate sind Betäuber, Amphetamine und Kokain sind Wachmacher, Haschisch und Marihuana sowie die psychodelischen Drogen LSD, Mescalin und Psilocybin sind Erweiterer und Kaffee, Tee und Nikotin sind Ernüchterer des Bewußtseins.
Einige Drogen wie vor allem Alkohol bewegen das Bewußtsein auf dem Kontinuum zwischen Betäubung und erhöhter Wachheit, je nach Zeitablauf, Dosierung und Disposition. So wirkt auf die meisten Menschen Alkohol zunächst aufmunternd, später aber ermüdend.
Drogen werden nicht nur eingesetzt, um vom Nullpunkt in eine der vier Richtungen zu gehen, sondern auch, um aus diesen Richtungen wieder zurückzukommen.

4.
Drogen haben kein Bewußtsein. Drogen sind Katalysatoren von Zuständen, die nicht in den Drogen, sondern im Bewußtsein sind. Man schluckt oder inhaliert nicht ein verändertes Bewußtsein. Es gibt auch andere Katalysatoren für veränderte Bewußtseinszustände. Man kann sich z.B. durch monotone körperliche Tätigkeit betäuben - wenn mit Rhythmus verbunden, wird das jetzt zuweilen Tanzen genannt. Man kann sich durch künstlich herbeigeführte oder aufgesuchte Extremsituationen in Spannungszustände bringen, die den bodymind überwach werden lassen. Und man kann sich durch asketische Exerzitien oder durch intensive Meditation wie durch bestimmte Formen des Tanzens in ein rauschhaft erweitertes Bewußtsein steigern oder sich scheinbar unvermittelt in einem Zustand künstlerischer Kreativität oder einem "Rausch der Erkenntnis" versetzt finden. Und es gibt auch umgekehrt die Ekstasen des Verstandes, den Rausch der Nüchternheit, die Exzesse der Abstraktion. Drogen stehen mit anderen Katalysatoren veränderter Bewußtseinszustände in einer komplexen Wechselwirkung, die Steigerung, Richtungsänderung oder Abschwächung der intendierten Bewußtseinsveränderung Veränderung bewirken können.

5.
Drogen sind hilfreich. Mit ihrer Hilfe braucht man weniger Anstrengung oder Begabung, um solche Zustände veränderten Bewußtseins zu erreichen, als mit anderen Katalysatoren. Drogen ermöglichen jedermann eine Veränderung des Bewußtseins, Drogen sind demokratisch. Mit ihrer Hilfe kann man die eigenen Schmerzen leichter ertragen, die eigenen Energiepotentiale voller ausschöpfen und sich ekstatischen Zuständen annähern, die sonst nur Schamanen, Yogis und Heilige kennen. Drogen steigern die Verfügungsmacht des Menschen über sich.

6.
Drogen sind gefährlich - etwa so gefährlich wie Autofahren. Man muß den Umgang mit ihnen lernen. Falsch dosiert oder zu häufig verwandt werden sie zu Giften. Man kann unwissentlich sich selbst und andere schädigen, wenn man sich gegenüber den Drogen ignorant verhält, wozu auch die Verleugnung der Tatsache gehört, daß es überhaupt etwas über sie zu wissen gibt. Gäbe es einen entspannten kulturellen Umgang mit Drogen, müßte es einen Drogen-TÜV geben, sowie nicht nur die Möglichkeit, sich theoretisch über Drogen zu unterrichten, sondern auch praktisch mit ihnen Erfahrungen zu sammeln.

7.
Tatsächlich gibt es vieles zu wissen. z.B. können Drogen süchtig machen - so wie jeder andere Katalysator veränderter Bewußtseinszustände auch. Und auch dies können Drogen in der Regel schneller bewirken. Klassisches Kriterium der Sucht ist das Nicht-mehr-aufhören können, also eine Beeinträchtigung der Souveränität über sich selbst. Dieser Verlust entsteht durch das sogenannte Toleranzproblem: um den gleichen Bewußtseinzustand herzustellen braucht man immer größere Mengen der gleichen Droge. Aus der Wiederholung einer Erfahrung wird ein Wiederholungszwang. Das zwanghafte Verhalten hängt aber nicht an der Droge, sondern an einem falschen Umgang mit ihr, genauer: einer falschen Dosierung: zu schnell zu oft zu viel. Drogen führen nicht automatisch zur Sucht; die Sucht ist nicht Bestandteil der Droge. Viele Alkohol-, Morphium- oder Heroin-User halten sich jahrelang auf dem gleichen Level der Dosierung und können dabei ein regelmäßiges Leben führen, z.B. auch: arbeiten. Die anderen wollen so nicht leben.

8.
Drogenfragen sind Souveränitätsfragen. Das gesellschaftliche Verhältnis von Mensch und Droge ist gegenwärtig dadurch charakterisiert, daß die rituelle Souveränität, die die Gesellschaft einst über die Droge hatte, an die kontrollierende Souveränität des Staates verloren ging, während die wissenschaftliche Souveränität, die der einzelne über die Droge besitzen könnte, noch nicht gewonnen ist.

9.
Jeder hat das Recht, vorübergehend sein Bewußtsein zu verändern, solange er nicht anderen dabei schadet - sollte man meinen. In Wirklichkeit wird uns dieses Recht vorenthalten. Während inzwischen das Eigentumsrecht auf den bislang rechtsfreien menschlichen Körper ausgedehnt wird, so daß wir tendenziell über unsere Gene und Chromosomen, unsere Eier, unseren Samen und unsere Organe frei verfügen, sie also auch veräußern und erwerben können - während diese rasch fortschreitende Entwicklung natürlich dann auch die Ent-Eignung des Körpers oder einzelner seiner Bestandteile durch eine neues Patentrecht ermöglicht - ist das Verfügungsrecht über unser Bewußtsein eingeschränkt, steht unser Bewußtsein unter staatlicher Aufsicht.

10.
Das Drogenproblem ist ein Kontrollproblem des Staates. Veränderte Bewußtseins-zustände tendieren dazu, unerwartetes Verhalten, Denken und Erleben zu produzieren. Das geht gegen das polizeiliche Kontrollinteresse an Ordnung und Übersichtlichkeit. Dieses Interesse wiederum ist das staatliche vermittelte Interesse der Industrie an berechenbarer Leistung der Lohnabhängigen und - noch immer - der Kirchen an der Glaubensgewißheit, also Glaubensabhängigkeit, wenigstens ihrer Mitglieder.


11.
Die individuellen und sozialen Strategien, die gesellschaftlich angeboten werden, Menschen aus der Drogensucht zu helfen, sind ausnahmslos zu Scheitern verurteilt, solange sie nicht auf dem individuellen Willen zur Souveränität gegenüber den Drogen aufbauen können. Das ist deshalb so häufig nicht der Fall, weil die Süchtigen paradoxerweise ihre Sucht als den einzigen Akt der Souveränität erleben, der ihnen unter den sie beherrschenden sozialen und ökonomischen und politischen Bedingungen geblieben ist: die einzige Möglichkeit eines souveränen Aktes vor dem Selbstmord ist das Selbst-Opfer der freiwilligen Aufgabe der eigenen Souveränität an den selbst gewählten Suchtstoff.

Deshalb sind Initiativen wie die Anonymen Alkoholiker oder Synanon scheinbar erfolgreicher als andere Therapieversuche: sie nehmen diese freiwillige Aufgabe der Souveränität ernst und ersetzen den Souverän Droge durch einen anderen Souverän, bei Synanon ist es die Gemeinschaft, bei den Anonymen Alkoholikern eine "höhere Macht". Beide verlangen absolute Abstinenz und benutzen Encounter-Techniken, öffentliche Beichte und Gruppensupport für das Abstinent-bleiben. Beide gehen davon aus, daß der Gebrauch der Droge eine Krankheit ist und daß der Süchtige eine fatale Anfälligkeit für diese Krankheit hat und immer haben wird - mit anderen Worten, daß der Süchtige keine eigene Souveränitätschance hat. Derartige Programme haben also eine geheime Nähe zur staatlichen Souveränitätsideologie, nach welcher der Staat und seine Organe die Staatsbürger ebenso sehr vor sich selber wie vor der Droge beschützen müssen. Durch Strafe und Erziehung bzw. Therapie sollen die Bürger möglichst gegen alle nichtstaatlichen Verführer immunisiert werden. Nur die etablierten Kirchen sind davon ausgenommen. Es ist diese Entmündigung, weshalb es viele Heroinsüchtige vorziehen, bei der absurden Wahl zwischen Gefängnis und Therapie, die ihnen in Deutschland zugemutet wird, in den Knast zu gehen. Auf diese Weise bewahren sie sich ein Stück ihrer Souveränität, so dürftig wie sie einem Außenstehenden auch erscheinen mag.

12.
Die Heroinszene kann man erst verstehen, wenn klar ist, daß dieses Opiumkonzentrat medizinisch so gut wie überhaupt kein Problem ist - anders als Alkohol, dessen negative Wirkung auf die Leber, Nieren und auf die Gehirnzellen deutlich und gegebenenfalls tödlich sind. Alle Probleme, die mit der Heroinszene zusammenhängen, insbesondere auch die Gesundheitsprobleme, hängen nicht mit der Droge zusammen, sondern mit ihrer Kriminalisierung und dem Kick, den viele Heroinsüchtige daraus beziehen, in einem kaputten Außenseitermilieu zu leben. Die über Dreißigjährigen steigen allmählich aus eigenem Entschluß aus der Szene aus; selten nur findet man Heroinsüchtige, die über 35 Jahre alt sind. Allerdings sind unterwegs einige allzu früh gestorben. Die durch die Illegalisierung bewirkte Gefährdung der Süchtigen durch verschmutzte Nadeln hat erst jetzt, nachdem die Hauptgefahr nicht mehr Hepatitis sondern AIDS heißt, und auch nur in ganz wenigen Orten in Europa zu einer vorsichtigen Diskussion geführt, ob nicht die freie Abgabe von Heroin an die gänzlich Therapieresistenten eine sinnvolle Maßnahme wäre. Und das Methadon-Programm? Vor 25 Jahren bereits schrieb einer besten Kenner der Drogenproblematik, Andrew Weil, dazu:
"Methadone maintenance for heroin addicts is shockingly off the mark. Instead of showing heroin users how to get high without drugs, it is a method of giving them drugs without highs." (1) Tatsächlich ist der heimliche Beigebrauch von illegalen Drogen ein Hauptproblem für die Helfer im Methadon-Programm. Damals gab es allerdings noch nicht AIDS; es gehört zur Absurdität der herrschenden Doppelmoral gegenüber den Drogen, daß man aus diesem Grunde und weil es die Beschaffungskriminalität senkt, nicht gegen das Methadon-Programm sein darf.

Offensichtlich sind nicht-alkoholische Betäubungen gesellschaftlich unerwünscht. Das war nicht immer so: in der Frühphase der Industrialisierung war - wie heute noch auf lateinamerikanischen Latifundien - ein gewisser Alkoholisierungs-, also Betäubungsgrad bei den Arbeitern erwünscht und wurde gefördert, weil sie auf diese Weise ihre Arbeit besser ertrugen und die Gefahr ihrer Politisierung verringert wurde. Später mußte die Sozialdemokratie einen zähen Kampf gegen den Alkoholismus in der Arbeiterschaft fuhren, weil chronisch betrunkene Menschen politisch kaum ansprechbar sind.

13.
Obwohl Alkohol medizinisch gefährlicher als Opiate ist, steigt der Alkoholkonsum weltweit ohne oder mit geringer staatlicher Kontrolle weiter an. Auf jeden Menschen, der am Konsum illegaler Drogen stirbt, kommen in Deutschland mindestens 150 Tote durch Alkohol - ohne die alkoholbedingten tödlichen Verkehrsunfälle, die im Schnitt die Hälfte aller tödlich verlaufenden Unfälle ausmachen. Vielleicht ist ein Pro-Kopf-Verbrauch von in Deutschland derzeit etwa 15 1 reinen Alkohols im Jahr gar nicht so viel. Aber diese Menge verteilt sich nicht gleichmäßig über die Bevölkerung, vor allem aber nicht gleichmäßig über alle Tage des Jahres. Nach der Logik der staatlichen Souveränitätsideologie müßte der Alkohol verboten werden. Aber gegen eine Prohibition stehen eine alte und mächtige Industrie, sowie eine starke und historisch tief verwurzelte Volkskultur. Am ehesten noch im Alkohol erweist sich das Volk als Souverän. Die Alkoholwerbung versucht sie ihm wieder abzukaufen. In der Lücke zwischen diesen beiden Kräften und konnte Harald Junke von den Medien zum letzten wirklichen Volkshelden der Deutschen gekürt werden.

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Die Lehren aus der amerikanischen Prohibition und aus den Teilprohibitionen anderer Länder z.B. in Skandinavien sind nie gezogen worden: man weiß, daß Prohibitionen nichts nutzen, wohl aber großen Schaden anrichten, nämlich: Illegalisierung und damit Kriminalisierung der Produktion und des Handels, dadurch Förderung krimineller Vereinigungen, sowie medizinisch gefährliche Versauung der Produktqualität für den Verbraucher. Jedoch wird dieses Wissen nicht politisch umgesetzt.

15.
Das was heute als Drogenproblem wahrgenommen wird, ist zum Teil das Produkt staatlicher Kriminalisierungen, zum Teil ein Ergebnis der Industrialisierung der Drogenproduktion und des Drogenkonsums. Letzteres läßt sich am deutlichsten am Alkohol ablesen. Von alters her gab es einen gemäßigten, problemlosen Konsum von Bier im Norden und Wein im Süden Europas. Wein und Bier dienten zumal in den Städten alltags zur Absicherung gegen verschmutztes Wasser, an Festtagen zur Erzeugung von mehr oder weniger starken Rauschzuständen und außerdem als mildes Analgetikum. Erst die Entwicklung und Verbreitung von neuen Destillationsverfahren schuf das Problem: die Erfindung des Branntweins war zugleich die Erfindung des Alkoholismus wie wir ihn heute kennen. Ihr folgten bald andere Destillate: Rum aus Zuckerrohr, Schnaps aus Getreide und Kartoffeln, Yake aus Reis, Tequila aus Agaven usw

Die Destillations- und Konzentrationstechniken haben inzwischen in allen Drogenbereichen dazu geführt, daß die ersehnten Zustände veränderten Bewußtseins immer schneller herbeigeführt werden können. So ist das Heroin im Verhältnis zum Opium und das Kokain im Verhältnis zum Coca das gleiche wie der Brantwein im Verhältnis zum Wein. Wie in anderen Bereichen der Modernisierung ist das Hauptziel wie das Hauptproblem die zunehmende Geschwindigkeit. Steigerung der Produktion und ihrer Profite setzt Steigerung des Umsatzes voraus: es soll schneller und mehr gesoffen werden - und es wird. Aber nun kommen die neuen Designer-Drogen, die gar kein natürliches Derivat mehr haben - Versuche einer chemischen Maßschneiderei von Bewußtseinszuständen, deren Gefährlichkeit allerdings allein darin liegt, daß ihre Illegalisierung den Konsumentenschutz verhindert. Die Designer-Drogen, deren Potential mit Ecstasy sicher nicht ausgeschöpft ist, könnten in Zukunft die Möglichkeiten zur Bewußtseinsveränderung noch vielgestaltiger werden lassen, vorausgesetzt man würde offen und mit Bedacht ihre Möglichkeiten testen, statt nur im Geheimen damit Geld zu verdienen.

16.
Nach der Verbreitung der Destillen wurde der zuvor moralisch neutrale Alkoholkonsum verteufelt, am ersten und deutlichsten in den puritanischen Ländern. In die USA kam der Teufel zuerst in Gestalt des Rums von den karibischen Inseln. Der immer schnellere und kräftigere Rausch paßte nicht zur Protestantischen Ethik und gefährdete die Leistungskraft der Industriearbeiter, die allmählich mit komplizierteren Maschinen umgehen mußten. So reichte die Verteufelung durch die Prediger bald nicht mehr aus. Das 19. Jahrhundert bringt immer neue Abstinenzlerbewegungen hervor, die hauptsächlich von militanten Frauen getragen wurden. In Amerika wurden zeitweilig die Kneipen zum Hauptschlachtfeld des Geschlechterkampfes. Zu Beginn dieses Jahrhunderts kam es schließlich zur Prohibition, die sich dann als völliger Fehlschlag erwies.

Die Lösung dieses Problems war ein Paradigmenwechsel: aus der Sünde der Lust am Alkoholrausch wurde die Krankheit des Alkoholismus. Die Agenturen der Macht veränderten sich, wurden subtiler - Foucault hat es beschrieben. Der Sozialarbeiter, die Entziehungskur auf Krankenkasse, schließlich der ÖTV- geschützte und - kontrollierte Alkoholismus am Arbeitsplatz sind Stationen auf diesem Weg. Alkohol als Krankheit ist der Ausweg aus dem industriell produzierten Souveränitätsdilemma, welches der Alkohol als Konsumkultur aufwirft.

17.
Bei den anderen Drogen schien dem Staat ein anderer Weg lohnender: der Drogenkrieg. Er ermöglicht die Aufrechterhaltung und - wie es in Kriegszeiten üblich ist - sogar Verstärkung staatlicher Souveränitätsansprüche gegenüber den drogenunmündigen Untertanen. Zugleich konnte damit das selbst geschaffene Drogenproblem nach außen projiziert werden: zum Feind wurden die drogenproduzierenden Drittländer, was zudem einem offenen oder verdeckten Rassismus in den USA und in Europa entgegenkommt. Die enormen Kosten des Drogenkrieges - ein riesiges Aufgebot an Polizei unterstützt durch die paramilitärische Truppe des DEA, der 1972 gegründeten amerikanischen Drug Enforcement Agency, und dennoch oder gerade deshalb: Förderung der Mafia, Unterwanderung der Finanzwirtschaft durch Drogengelder, Tote und Verletzte an allen Fronten des Drogenkriegs, Ansteigen von AIDS und anderen Krankheiten durch verschmutzte Nadeln, Ansteigen der Kriminalität durch die hohen Endverbraucherkosten, sekundäre Kriminalisierung durch Gefängnisaufenthalte alles das wird in Kauf genommen, weil dieser Krieg die Souveränitätsfiktion des Staates und den von ihr lebenden Herrschaftsapparat aufrecht erhält. (Einige Historiker sagen, daß das Canabisverbot, mit dem der weltweite Terror der amerikanischem Drogengesetzgebung begann, sich einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Food and Drug Administration nach der Aufhebung der Prohibition verdankt.) Schließlich läßt sich der Drogenkrieg auch außenpolitisch gut verwerten: Die Rechtfertigung kleiner und wie im Fall Noriega in Panama auch größerer amerikanischer Militärinterventionen in Lateinamerika muß im Rahmen anderer mehr oder weniger subtiler Kolonisierungsstrategien gesehen werden.

18.
Schon immer wollte die Kirche - und heute natürlich will der Staat - das Monopol über alle Drogen. Die Benutzung der besten jeweils bekannten Betäubungsmittel - im Mittelalter Stechapfel und Opium - wurde von der Kirche verboten; die heimliche Benutzung führte oft zu Hexenprozessen. Und das in einer Zeit ohne moderne Chirurgie und ohne moderne Anäthesie! Heute sorgt das Betäubungsmittelgesetz dafür, daß alle wirksamen Betäubungsmittel außer dem allerschlechtesten - dem Alkohol - entweder verboten sind oder nur unter Kontrolle und mit zahllosen Einschränkungen legal verwendet werden dürfen. Auch der Alkohol wäre ja verboten, würde nicht der Staat und eine Industrie an ihm so gut verdienen. In den USA bringt die Alkoholsteuer drei Milliarden Dollar pro Jahr ein. Aber vielleicht spielt ja auch die große Liebe dabei eine Rolle, die viele Politiker zum Alkohol hegen.

19.
Unter den zahllosen negativen Wirkungen des Betäubungsmittelgesetzes ist eine, die wenig Aufmerksamkeit erregt, die aber buchstäblich besonders weh tut - nämlich die extremen Einschränkungen, unter denen legal Morphium und ähnliche Opiate oder opiatähnliche Stoffe verwendet werden dürfen. Im internationalen Vergleich zeigt sich übrigens, daß die deutsche Medizin ganz besonders zurückhaltend mit der Vergabe wirksamer Schmerzmittel in klinischen Situationen ist und daß insbesondere da, wo der Körper als Gegenstand medizinischer Bemühungen aufgegeben ist - austherapiert, wie es im Medizinjargon heißt mit wirksamen Schmerzmitteln für die oft qualvoll Sterbenden gegeizt wird, die damit der Chance, ihren Tod bewußt zu erfahren, beraubt werden. Denn das Gewahrsein verträgt sich nur schwer mit dem Schmerz. In unseren Hospitälern und Arztpraxen kann man ebenfalls noch immer den alltäglichen Faschismus im Kleinen begegnen.

20.
Thomas Szasz hat meines Wissens als erster darauf hingewiesen, daß hinter der Angst vor dem Recht auf Selbstbetäubung die Angst vor dem Recht auf Selbsttötung steht. Der Suicid, also die Verfügung über den eigenen Körper in äußerster Konsequenz, ist nicht erlaubt und schon gar nicht die Beihilfe dazu. Wiederum geht es um eine Frage der Souveränität. Die Kirche ging davon aus, daß wir die Kinder eines Schöpfergottes sind, Gott allein war der Souverän - natürlich vertreten durch die Kirche und ihre Machtträger. Heute sind wir die Kinder eines anderen Souveräns. In Deutschland sind Selbsttötungsversuche zwar nicht strafbar, führen aber regelmäßig und schnell in die Psychiatrie. Und bei den Selbstverletzungen wurde schon immer eine Ausnahme vom Prinzip der Straflosigkeit gemacht, wenn es um das Motiv ging, sich dem Wehrdienst zu entziehen, wozu es ja immer wieder gute Gründe gab. Im Dritten Reich stand auf diese Wehrkraftzersetzung am eigenen Leib der Tod.

21.
Heute - auch darauf hat Thomas Szasz hingewiesen - wird um ein Recht auf Leben und ein Recht auf Sterben gestritten; in beiden Fällen geht es um Souveränitätsfragen: im einem Fall steht die Reklamation des Fötus durch die Kinder-Gottes-Theologie gegen die Souveränitätsrechte der Mutter. Im anderen Fall geht es um die Frage, ob und unter welchen Umständen Ärzte das Recht haben, Todkranke zu töten bzw. sterben zu lassen.. Diese Fragen sind bekanntlich heftig umstritten. Halten wir aber fest, daß es weder in dem einem noch in dem anderen Fall um ein Recht des erwachsenen, gesunden oder jedenfalls nicht unmittelbar dem Tod geweihten Menschen geht, der da zu entscheiden hätte, ob er leben oder sterben will - von einem solchen Recht sind wir weit entfernt. In den Worten von Professor Szasz: " I maintain ... that so long as we are more intererested in investing doctors with the right to kill than in reclaiming our own right to drugs our discourse about rights and drugs is destined to remain empty, meaningless chatter." (2) Und halten wir auch zweitens fest, daß die Debatte um Lebens- und Sterbensrechte nur deshalb in Gang gekommen ist, weil sie von der Technik erzwungen wird.

22.
Es gibt einen Bereich in unserer Gesellschaft, da wird einem die mehr oder weniger offene Entscheidung, ob und vor allem auch wie man sein Bewußtsein verändern will, in der Praxis einfach abgenommen. In der Medizin und vor allem bei der Verabreichung von Psychopharmaka in der Psychiatrie geht es um betäubende und erregungsdämpfende, sowie auch stimmungsaufhellende Mittel. Die Psychopharmaka sind gemessen an den Schrecken der Psychiatriegeschichte - eiserne Fesseln, Eisbäder, Elektroschocks, Lobotomien - ein großer Fortschritt. Ohne Frage lindern sie auch vielfach die Symptome. Aber sie sind und bleiben eine unsichtbare Fessel. Bei der häufigen Überdosierung liegen die Neuroleptika den Patienten wie Blei im Körper. Und die Bequemlichkeit der kostengünstigen und einfach zu verabreichenden Psychopharmaka für die Anstalten behindert vermutlich die Entwicklung und praktische Erprobung wirklicher Therapien.

Andererseits ist der subsidiäre Einsatz von bewußtseinserweiternden Drogen in der Psychotherapie innerhalb und erst recht außerhalb der Kliniken nach wie vor ein Tabu. Während viele Psychiatriepatienten mit den dämpfenden und matt machenden Drogen unzufrieden sind und oft heimlich ihre Einnahme sabotieren, ist andererseits der Gebrauch von Haschisch, LSD und jetzt auch MDMA zu therapeutischen Zwecken verboten worden. Nur in der Schweiz gibt es - vielleicht Hoffmann, dem schweizer Entdecker dieses Stoffes zu Ehren - eine besondere Lizenz für LSD-Therapie. In Deutschland existiert dagegen ein illegaler Markt für Gruppen, in denen angeleitete LDS- und MDMA-Erfahrungen gemacht werden, die vor allem dies belegen: daß es eine Nachfrage nach heilsamer Bewußtseinsveränderung gibt. Das zentrale Interesse der psychiatrischen Anstalten und des Gesetzgebers ist das Dämpfen der Erregungszustände, die Herstellung von Ruhe, wobei die Milderung psychotischer Angstzustände der positive Nebeneffekt ist. Drogen, die einer Erweiterung des Bewußtseins förderlich sind und die eine Alternative zu psychotischen und neurotischen Erfahrungen bieten könnten, werden illegalisiert, weil das durch sie veränderte Bewußtsein Normalität so verarbeiten würde, daß der alltägliche Wahnsinn in ihr zum Vorschein käme.

23.
Für einen eher verdeckten Zwang zum Verzehr von Drogen ist der Zucker ein schönes Beispiel. Destillierter Zucker ist eine Droge. Die Wirkung scheint harmlos - er gilt als ganz milder downer - aber es ist bekannt, daß er süchtig machen kann, daß er die Zähne ruiniert und daß er den Stoffwechsel ungünstig beeinflußt. Der Körper benötigt Oberhaupt keine Zuckerzufuhr von außen; er produziert den Zucker, den er braucht, durch Umwandlung von Stärke selbst. Nun kann man sich natürlich frei entscheiden, ob man Zucker in den Kaffee nimmt und ob man zuckerreiches Gebäck und andere Süßigkeiten zu sich nehmen will oder nicht. Aber es ist heute kaum mehr möglich, sich überhaupt zu ernähren, ohne ahnungslos Zucker in Mengen zu sich zu nehmen. Angefangen mit dem Brot ist der Zucker in unzähligen Lebensmitteln versteckt enthalten. Aber das fällt im Zeitalter mit Antibiotika angereicherter und genmanipulierter Nahrungsmittel kaum ins Gewicht. Es soll allerdings nicht unerwähnt
bleiben, daß die am besten belegte Hypothese zur Erklärung der sogenannten Wachstumsakzeleration, die wir seit hundertfünfzig Jahren in den westlichen Ländern beobachten können, diese auf den unaufhaltsamen Anstieg des Zuckerverbrauchs zurückführt.(3)

24.
In einem anderen Bereich der Konsumgesellschaft, der für die Werbung besonders wichtig ist, spielen illegale Drogen eine bedeutende Rolle, nämlich als Doping im Hochleistungssport. Tatsächlich sind die Firmen, die die Werbeflächen in den Stadien und auf den Leibern der Sportler bezahlen, nicht die einzige Beteiligung der Industrie am Sport, in verdeckter Form ist immer die pharmazeutische Industrie mit am Start. Eine der einfachsten und wirkungsvollsten Schritte zur Überwindung der herrschenden Doppelmoral in Bezug auf die Drogen wäre die Legalisierung des Doping. Endlich würde deutlich, daß der Hochleistungsport ein Wettbewerb von Chemiegiganten ist, endlich könnten die Sportler mit dem Namen der Droge ihrer Wahl bzw. der Wahl ihres Sponsors auf der Brust ins Rennen gehen. Auf diese Weise könnte man nebenbei auch der Gesundheit der Sportler einen Dienst erweisen, könnte doch ihr Drogenspiegel nun offen ärztlich kontrolliert werden. Zugleich würde deutlich werden, wie sehr überhaupt die Artifizialisierung unserer Körper bereits fortgeschritten ist. Wenigstens sollte man der Chemieindustrie gestatten, einen chemische Gegen-Olympiade zu veranstalten. Das würde allerdings einen Abschied von der lieb gewonnenen Werbelüge von der gesunden Natürlichkeit und der natürlichen Gesundheit unseres Körpers bedeuten.

25.
Fast alle Menschen nehmen Drogen, aber nur wenige bekommen die, die sie nehmen würden, wenn sie über ihre Wirkungsweisen aufgeklärt und wenn sie frei im Handel erhältlich wären. Die Vorstellung, man könnte die Menschen dazu überreden, keine Drogen mehr zu nehmen, ist ein gefährlicher Traum der Vernunft. Tatsächlich ist das, was getan wird, um das Drogenproblem zu lösen, das Problem selbst. Was fehlt sind nicht mehr Gesetze oder bessere Strafverfolgung oder mehr Therapie, sondern eine verbundene Kultivierung des Drogengebrauchs, eingebettet und angeregt in einen informierten und informierenden Diskurs der Erfahrenen. Die Lösung für jemanden, der zuviel Whisky trinkt, besteht nicht in der Abstinenz, sondern darin ein Weinkenner zu werden. Und zur Kultivierung gehört Ritualisierung: Rituale sind das Gegenteil und das Antidotum zur zwanghaften Gewohnheit, aus der 90% allen Suchtverhaltens besteht. Da wo es beim Alkoholtrinken noch Rituale gibt, wird unter Umständen und von Zeit zu Zeit schwer gesoffen, aber das ist kein Suchtproblem. Auch der kreisende Joint ist - worauf der Name ja schon verweist - ein gemeinsames Ritual. Solche Rituale helfen, die Gefahr zu bannen, daß bei der isolierten Erfahrung einer Veränderung des eigenen Bewußtseins das Gefühl einer Fremdheit entsteht - der Gedanke ausgestoßen oder die Idee verrückt zu sein. Schließlich sind viele Psychosen soziologisch gesehen nichts anderes als das Pech, weder Jünger noch wenigstens Brüder im Geiste gefunden zu haben.

26.
In der öffentliche Haltung gegenüber Drogen drückt sich auf das beste der Zustand unserer Herrschaftsverhältnisse, oder anders gesagt: der Stand unserer Emanzipation aus. Die Drogenpolitik der westlichen Staaten ist pure Ideologie; nicht das Opium sondern diese Ideologie ist schädlich. Ich plädiere für einen grundsätzlichen Wandel: Das zu etablierende Recht auf Drogen muß sich zwingend aus zwei Grundrechten des Menschen ableiten: dem Recht auf Verfügung über den eigenen Körper - kristalisiert im Recht auf den selbstbestimmten Tod - und das Recht auf Veränderung des eigenen Bewußtseins. Erst wenn diese Rechte zugestanden sind, könnten sie für bestimmte Situationen und Umstände eingeschränkt werden, wie das mit anderen Grundrechten nach reiflicher Überlegung und gründlicher Diskussion auch möglich ist. Und erst wenn diese Rechte erkämpft worden sind, wird man eine Veränderung im Umgang mit Drogen erwarten können. Denn diese Rechte sind Ausdruck des Prinzips der individuellen Eigenverantwortlichkeit für die größten Gaben, die jedem Menschen mitgegeben sind: seinen Körper und sein Bewußtsein.

27.
Der herrschende Umgang mit Drogen ist das Resultat eines tiefgehenden materialistischen Mißverständnisses, das unsere ganze Kultur durchzieht, das Mißverständnis, daß den Stoff mit dem Bewußtsein verwechselt. Das gleiche Mißverständnis, welches das medizinische Handeln bereits zunehmend kontaminiert, beflügelt gegenwärtig die abstrusesten Hoffnungen bei der Genforschung und der Konstruktion von Künstlicher Intelligenz. Drogen können Auslöser veränderter Bewußtseinszustände sein, die ähnlich auch anders erreicht werden können. Es gibt kein einseitiges Kausalverhältnis zwischen Droge und Bewußtsein, es handelt sich vielmehr um eine komplexe Wechselwirkung, bei der der Zustand vor der Einnahme der Droge sowie der intendierte Zustand eine mindestens ebenso große Rolle spielen, wie die eingenommene Substanz. Freiwilligkeit oder Gruppendruck oder Anstaltszwang sind determinierende Ausgangsbedingungen für die Wirkung von Drogen. Jeder Erfahrene weiß, wie sehr die Bewußtseinsveränderung von set und setting abhängt, also von den kulturellen, sozialen und psychischen Bedingungen der Einnahme, wobei den jeweiligen Voreingenommenheiten und den intentionalen Orientierungen eine besonders determinierende Kraft zukommt. Weder den Neurowissenschaften noch den Computerwissenschaften, schon gar nicht Psychologie und Psychiatrie wird es gelingen, das Bewußtsein materialistisch zu verdinglichen. Der beste Weg, dessen Reichtum und Reichweite zu erforschen, ist die angelegte Selbsterfahrung, eingebettet in gemeinsame Rituale und getragen von einem wenn schon nicht herrschaftsfreien, so doch wenigsten staatsfreien Diskurs. Deshalb: Drogen für alle!

(1) Andrew Weil, The Natural Mind, Penguin Books London 1972, p. 18 1.

(2) Thomas Szasz, The Fatal Temptation: Drug Prohibition and the Fear of Autonomy, in: Daedalus, Political
Pharmacology - Thinking about Drugas, Summer 1992, p. 163/164.

(3) Siehe Dieter E. Zimmer, Experimente des Lebens, Hafmans Verlag 1989, S. 131 ff.

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