Alexander Meschnig

Vom Paternalismus zur symbolischen Gewalt

I.

Die Seele: Gefängnis des Körpers. Dieser zunächst rätselhafte Satz - wie kann die immaterielle Seele Begrenzung sein? - findet sich im vielleicht schönsten Werk von Michel Foucault. In: „Überwachen und Strafen." In diesem Buch wird der systematische Versuch unternommen, die für die Moderne charakteristische Verflechtung von Macht und Wissen einer analytischen Betrachtung zu unterziehen. Für den eingangs zitierten Satz bedeutet dies etwa: die Seele meint hier keine substantielle Größe mehr, kein göttliches oder metaphysisches Substrat, sondern ein diskursives Produkt, in welchem die Wirkungen einer bestimmten Macht (Foucault nennt sie Disziplinarmacht) und der Gegenstandsbezug eines Wissens sich ineinander verschränken. Die Seele oder sagen wir aktueller: die Psyche, wäre folglich der Schnittpunkt von Machttechniken, die tendenziell unkörperlich werden und „je mehr sie sich diesem Grenzwert nähern, um so beständiger, tiefer, endgültiger und anpassungsfähiger werden ihre Wirkungen. Der immerwährende Sieg vermeidet jede physische Konfrontation und ist immer schon im vorhinein gewiß."
Was heißt diese Verschränkung von Macht und Wissen aber nun für die Humanwissenschaften oder spezieller für die Psychiatrie? Als politische Technologie ist sie Teil jener Biomacht, die Foucault dadurch kennzeichnet, daß sie den Eintritt des Lebens in das Feld der Politik ermöglichte. Die Seele oder Psyche wird zum möglichen Objekt eines Wissens und zugleich zum Angriffspunkt vielfältiger Normalisierungspraktiken und Manipulationen. In der medizinischen Definition der Geisteskrankheit vermeint die Psychiatrie ihren wahren Gegenstand gefunden zu haben, der ihre technisch-professionellen Eingriffe legitimiert. Aber die Wahrheit der Psychiatrie liegt nicht in der Menge der zu entdeckenden wahren Dinge (den medizinischen oder biologischen Ursachen der Geistesstörung) sondern im Ensemble der („wissenschaftlichen") Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird.
Von den Prozeduren der Ausschließung die Foucault in „Die Ordnung des Diskurses" anführt ist an dieser Stelle die Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn hervorzuheben. Seit dem Mittelalter ist der Wahnsinnige derjenige, dessen Rede nicht ebenso zirkulieren kann, wie die der anderen: seine Rede hat für sich weder Wahrheit noch Bedeutung. Nun könnte man einwenden, daß sich das heute anders verhält: das es einen ganzen Wissensapparat gibt, mit dem wir diese Rede abhören, dechiffrieren und auf sie einwirken, das ein ganzes Netz von Institutionen existiert, von der Psychiatrie bis zur Psychoanalyse, das einem erlaubt, dieser Rede zu lauschen. Aber - und man denke nur an die paradigmatische Technik der Psychologie schlechthin: die Interpretation - das ist vielleicht nur ein neuer Versuch, die Grenze nach anderen Linien, durch andere Institutionen und mit neuen Wirkungen zu ziehen.
Die großen Ausschließungssysteme unserer Gesellschaft: das Verbot (nicht jeder darf überall und in jeder Situation sagen, was er will) und die Ausgrenzung des Wahnsinns konvergieren beide auf ein drittes Prinzip zu: dem Willen zur Wahrheit. Immer mehr versucht letzterer sich die beiden anderen Prinzipien unterzuordnen und sie gleichzeitig zu modifizieren. So hat etwa die Strafjustiz ihre Grundlage und Legitimation in einer Theorie des Rechts und seit dem 19. Jahrhundert in einem psychologischen, medizinischen und psychiatrischen, kurz: einem humanwissenschaftlichen Wissen, gesucht. Als ob das Gesetz in unserer Gesellschaft nur noch durch einen Diskurs der Wahrheit (des Menschen) autorisiert werden kann. Bezogen auf die Frage des psychiatrischen Dispositivs heißt dieser Wille zur Wahrheit: die Praxis, mit der man bestimmte Individuen ausfindig macht, isoliert, verhört und diagnostiziert folgt einer Technologie der Macht, die man, wie Thomas Szazs in „Die Fabrikation des Wahnsinns" ausführt, bereits in der mittelalterlichen Inquisition verorten kann. Jedes Untersuchungswissen ist ein Inquisitionswissen. Nur ein Datum dazu: Auf dem IV. Laterankonzil 1215 wird nicht nur den Ketzern und Juden der Kampf angesagt sondern die Pflichtbeichte obligatorisch gemacht. Ein allgemeiner Imperativ wird errichtet, der das gesamte körperliche und seelische Begehren, die Träume, Wünsche und Phantasien zum Gegenstand einer Rede machen soll. Die Sünde besteht denn auch in der Zustimmung der Seele und weniger in der begangenen Handlung. Nicht mehr die Tat sondern das Subjekt wird zum Gegenstand der Untersuchung. Entscheidend sind die dabei angewandten Techniken, die sich, trotz Folter, immer auf die Seele richten und nicht auf den Körper. Bezogen auf das Verhältnis Inquisition-Psychiatrie bedeutetet das: Der Irre wäre, mit Szazs gesprochen, weniger der Sohn der Hexe als der Psychiater der Nachfahre des Inquisitors. Konsequenterweise und in polemischer Absicht folgt daraus, daß man vielmehr die Psychiater oder die Institution der Psychiatrie untersuchen sollte, als die sogenannten Irren.
Jeder Punkt der Machtausübung ist zugleich einer der Wissensbildung und jedes etablierte, d.h. für unsere Zeit, an einen wissenschaftlichen Diskurs angeschlossene Wissen, sichert die Ausübung von Macht. Die Macht des Psychiaters wird etwa durch staatliche Gesetze institutionalisiert, welche, indem sie ihn zum Experten machen, dem psychiatrischen Wissen eine bestimmte Quantität an Macht verleihen. Die Psychiatrie ist von ihrer Genese her eine politische Wissenschaft, denn sie hat ein Verwaltungsproblem gelöst, d.h sie hat den Wahnsinn zum Verwaltungsobjekt gemacht. Aber sie hat, indem sie der Justiz und allgemeiner der Vertragsgesellschaft eine Lösung für innerhalb ihrer Logik unbewältigbare Widersprüche bot, daraus eine technische Frage gemacht und den sozialen und politischen Druck des Problems zum Verschwinden gebracht. Im Zentrum des Kampfes der Antipsychiatrie steht denn auch die Frage nach den institutionellen Machtbeziehungen, den neuen Kräfteverhältnissen, den die Medizin hinter ihren Sinnverhältnissen und ihren therapeutischen Rationalisierungen ins Spiel bringt. Die Delegation von staatlicher Macht gehört zur Definition der Expertise. Der Experte definiert, über die Technik der Prüfung, stellvertretend für die Gesellschaft und auch für den zu Beurteilenden, was Realität ist. Die Psychiatrie ist dabei nur ein exemplarisches Beispiel für die allgemeine Prüfungsmanie. Von dem Augenblick an, wo die Diagnose auf Geisteskrankheit lautet, kann der Psychiater, wie Szazs sagt, sein Urteil in gesellschaftliche Realität verwandeln. Was die psychiatrische Expertise oder Diagnose stets impliziert, ist das absolute Recht des Nicht-Wahnsinns über den Wahnsinn. Dieses Recht legitmiert sich in der Sprache einer Kompetenz, die über Ignoranz ausgeübt wird, von gesundem Menschenverstand, der Irrtümer korrigiert und von Normalität, die sich der Unordnung und Abweichung aufdrängt. Diese dreifache Macht konstituierte den Wahnsinn als mögliches Erkenntnisobjekt für eine medizinische Wissenschaft, die ihn genau zu dem Zeitpunkt als Krankheit qualifizierte, da das von dieser Krankheit befallene Subjekt sich als Verrückter disqualifiziert sah, d.h. jeglicher Macht und jeglichen Wissens über seine Krankheit entblößt. Der „Erfolg" der Psychiatrie lag genau in der Produktion des medizinischadministrativen Status des Geisteskranken. Es wurde folglich das produziert, was danach „geheilt" werden sollte. Dieses Spiel eines Machtverhältnisses, das den Ort für eine Erkenntnis bildet, welche ihrerseits wiederum die Rechte dieser Macht begründet, charakterisiert die klassische Psychiatrie. Ich möchte im folgenden nur ein Element ihrer Logik behandeln, das in sich die ganze Macht-Wissens-Struktur versammelt: das Verhältnis von Arzt (Experte) und Patient (Klient). Das durch die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts geschaffene Paradigma der moralischen Behandlung gibt darüberhinaus auch das Modell für die modernen Psychotechniken (in selbstverständlich transformierter Weise) vor. Deshalb werde ich abschließend noch einiges zur „Psychiatrisierung des Alltags" sagen, ein Phänomen, welches, in seiner Idealform, eine Verallgemeinerung psychologischer Prinzipien als verbindliche Kontrollmodalitäten menschlicher Vermögen verspricht.

II.

Ich will hier keine Geschichte der Psychiatrie schreiben. Aber ich muß kurz auf die Genese der „moralischen Behandlung" eingehen, um ihre Bedeutung für die heutige Situation verständlich zu machen. Hatte der Absolutismus noch die Tendenz alle abweichenden Elemente undifferenziert einzusperren, so erzwangen die gesellschaftlichen Veränderungen des Kapitalismus (Industrialisierung, erstarkendes Bürgertum, Erkenntnis der Arbeitskraft als Quelle des Reichtums, politische Liberalisierung) zu einem differenzierteren Umgang mit abweichendem Verhalten. Verwies der Wahnsinn im Mittelalter und der Renaissance noch auf eine geheimnisvolle Tiefe und Monstrosität, so begann die Medizin des 19. Jahrhunderts ihm die beruhigende Positivität der Geisteskrankheit zu verleihen. Der Wahnsinn wird nun zum Objekt technischwissenschaftlicher Eingriffe. Der zur Behandlung fähige Geisteskranke besitzt einen - wenn auch dünnen und brüchigen - Faden zur Vernunft in sich. Die Verbindung zur normalen Welt kann durch eine dementsprechende Behandlung wiederhergestellt werden. Da die Welt vollkommen von den Strukturen der Vernunft durchdrungen ist, kann auch der Wahnsinn - die Philosophie der Aufklärung spricht - nur in Bezug auf die Vernunft begriffen werden. Der Wahnsinn erscheint jetzt als Mangel an Vernunft, als eine Störung in der Ordnung des Seins, als moralische Unordnung. "Es gibt gewiß eine Trennung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen. Aber diese verweist nicht mehr auf die Andersartigkeit zweier Naturen, sondern auf eine Differenz des mehr oder weniger bzw. der Vollständigkeit und des Defizits. Aus diesem Grund kann es Heilung geben." Es gibt folglich keine qualititativen Differenzen mehr sondern - identitätslogisch - lediglich unterschiedliche Positionierungen auf einem Kontinuum der Vernunft.
Das wichtigste Element der Heilung bildete immer schon das Geständnis des Kranken: das Eingeständnis einer Täuschung und die Anerkennung seines Irrtums. Die sogenannte "moralische Behandlung" des 19. Jahrhunderts brachte in ihrer idealen Form zwei Personen zusammen: den Arzt und den Kranken. (Selbstverständlich war und ist die kollektive Behandlung die im wesentlichen über disziplinäre Zwangsmaßnahmen funktionierte allgemeiner - hier gehr es mir aber um das paradigmatische der moralischen Behandlung.) Die Rückkehr zur Vernunft kann nur dadurch vollzogen werden, indem der Kranke einen vernünftigen Willen internalisiert bzw. zu ihm zurückfindet, der ihm zunächst fremd - in Gestalt des Arztes - gegenübertritt. Innerhalb des psychiatrischen Asyls spiegelt sich diese Beziehung in ihrer reinsten Form wider. Foucault hat sie in Wahnsinn und Gesellschaft als Apotheose der ärztlichen Gestalt beschrieben. Hier spiegeln sich in der Person des Arztes archaische Gestalten wider: Vater, Richter, Familie und Gesetz:
„... der Eingriff des Arztes (vollzieht sich) nicht Kraft eines Wissens oder einer ärztlichen Macht, die er als ihm eigen besäße und die durch ein Gebiet objektiver Kenntnisse gerechtfertigt wäre. Nicht als Gelehrter nimmt der homo medicus seine Autorität im Asyl wahr, sondern als Weiser...als juristische und moralische Garantie."
Die Beziehung Psychiater/Wahnsinniger ist also eine Art von symbolischem Kampf, der Widerstreit von Vernunft und Unvernunft, dessen Ausgang aber jederzeit gewiß ist. Letztlich kann der Wahnsinnige die Vernunft nur durch seine Unterwerfung unter die Autorität des Arztes und das Zugeständnis seines Irrtums wiedererlangen: "Das Arzt-Patient-Verhältnis, das hier im Spiel ist und das zum ersten Paradigma eines therapeutischen Verhältnisses in der Psychiatrie wird, ist eine Souveränitätsbeziehung (...) Die ärztliche Beziehung zum Wahnsinnigen in einer Vertragsgesellschaft kommt also nur durch Reproduktion eines historisch überholten Untertänigkeitsverhältnisses zustande. Das stimmt jedoch nicht ganz. Die Untertänigkeit gründet sich nicht mehr auf die Werte der Feudalgesellschaft sondern auf die vernünftigen der neuen Vertragsgesellschaft."
Wenngleich es innerhalb der Psychiatrie zwei widersprüchliche Bewegungen gab, so blieb das moralische Element doch stets vorhanden: neben der Moralisierung des Wahnsinns, vor dem Hintergrund einer pädagogischen oder therapeutischen Intervention, die beim Verrückten den Bezug zur Vernunft wiederherstellen sollte, gab es auf der anderen Seite die Tendenz zu einer biologischen Entmoralisierung. Das verrückte Verhalten wird hier als Ausdruck eines objektiven, körperlichen Prozesses gesehen. Diese Entwicklung führte - im deutschsprachigen Raum - über die biologische Psychiatrie Griesingers und Kraepelins zur modernen genetischen Psychiatrie. Doch blieb das moralische Element im Arzt-Patient-Verhältnis auch in ihr präsent. Darüberhinaus kann die moralische Behandlung der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts als Vorläufer unserer heutigen psychotherapeutischen Techniken angesehen werden. Diesen Gedanken legt auch Robert Castel nahe:
„...ich glaube, daß die moralische Behandlung erheblich mehr als eine vorübergehende Episode darstellt, denn sie hat ein praktisches Dispositiv hervorgebracht, das die Matrix für alle künftigen Psychotherapien ausmachen wird. Jenes Dispositiv hat die Bearbeitung des menschlichen Seelenlebens in den Rahmen einer Dienstleistungsbeziehung gestellt. Denn ausgehend von der moralischen Behandlung wird diese „Arbeit" tatsächlich und gänzlich zur professionellen, d.h. technischen Tätigkeit."
In einem religiös motivierten Geständnis ging es zwar ebenfalls um die Bearbeitung der Seele, doch bildete das Ziel dabei jenseitiges Seelenheil oder Transzendenz - nicht die Wiederherstellung psychischer Gesundheit in der Immanenz des diesseitigen Lebens. Die moralische Behandlung säkularisiert in dieser Hinsicht die Beziehung Experte-Klient und ordnet sie in das Modell der Goffmanschen Dienstleistungen ein: das reparaturbedürftige Objekt bildet nun die Psyche des Patienten; jene wird zum praktischen Objekt einer Transformationsarbeit, die ein Fachmann zu bewerkstelligen hat. In der Institutionalen Psychiatrie kann die moralische Behandlung oder sagen wir zeitgemäßer: die therapeutische Beziehung auf die institutionell verankerte Macht des Arztes zurückgreifen. Behandlung und Geständnis des Patienten erfolgen innerhalb einer Matrix der Vormundschaft: bis zur Wiedergewinnung der Vernunft untersteht der Wahnsinnige dem Willen des Arztes. Aber funktioniert die freie therapeutische Beziehung ganz anders im Hinblick auf die Frage der inneren Machtökonomie? Zweifellos läßt sich eine Kontinuität festhalten:
„Die moralische Behandlung - oder sagen wir jetzt: die therapeutische Beziehung - bewahrt einige entscheidende Züge ihrer Asylmatrix. Stets funktioniert sie ausgehend von einer fundamentalen Ungleichheit zwischen zwei Personen, von denen die eine das Wissen, die Macht und die Norm repräsentiert. Allerdings sind die sichtbaren Grundlagen dieser Privilegien verschwunden..."
Ich möchte hier keine simplifizierende Interpretation der freudschen Psychoanalyse geben. Aber betrachten wir die beiden Aussagefiguren (die des Klienten und die des Analytikers), so gibt es - streng genommen - zwischen ihnen keine Reziprozität. Der Diskurs des Analysanden wird erst durch die interpretative Tätigkeit des Analytikers signifikant. Alles, was nicht in die Interpretationsmaschinerie des analytischen Codes eingepaßt werden kann, ist nicht als Aussage möglich bzw. zugelassen. Daß das Auswirkungen auf die Produktion des Unbewußten hat, scheint mir evident.
Die alte Zwangsbeziehung hat sich in eine Vertragsbeziehung (Geld gegen Worte) transformiert. Ich behaupte nun nicht, daß moralische Behandlung und Psychotherapie in eins zu setzen sind. Beides sind historische Formen des Zugriffes auf die psychische Ökonomie des Subjekts. Schon allein deshalb sind Differenzen unumgänglich. Aber beide betrachten und konstituieren die Psyche als ein reparaturbedürftiges Objekt das auf einer Art von Markt der psychologischen Güter erscheint. Dieser Markt folgt bestimmten Gesetzen, hat seine Fachleute und Klienten. Noch einmal Castel:
„Die schillernde Welt der aus der Tiefe der Psyche kommenden Phantasmen wird in einem institutionellen Rahmen aufrechterhalten und kontrolliert...Es handelt sich dabei um einen speziellen institutionalisierten Rahmen des Rationalisierungs- und Entzauberungsprozesses der Welt: das Uneingestehbare selbst wird säkularisiert und laisiert".
Auch das Geständnis ändert damit seinen Sinn. Es geht nicht mehr um Schuld, nicht mehr darum, etwas zuzugeben, was man nicht tun hätte dürfen. Das Uneingestehbare ist nicht mehr länger unsagbar, da es weder auf Verbot noch Übertretung bezogen ist. Diese Entmoralisierung hat entscheidende Auswirkungen auf unser modernes Selbstverhältnis. Die vollständige Integration der Abweichung in einen normalisierenden Diskurs zeigt den gesellschaftlichen Triumph der Psychotechniken und eine bedeutende Verschiebung an: „Mit dieser Integration scheint nicht nur die philosophische, sondern auch die anthropologische Begründung aller Psychologie vollendet: sie erscheint nicht nur im Augenblick, sondern auch auf die Dauer so vollständig die (menschliche) Wahrheit der Wahrheit (des Menschen) zu sein, daß die Techniken der Beherrschung, die sie konstituieren, im Sinne einer vollständigen Verkehrung als Techniken des Selbst auftreten: auf dem umfassenden Markt der Therapien."
Die klassische Psychiatrie hatte den großen strategischen Nachteil, die absolute Trennung zwischen normal und pathologisch durch die Mauern des Asyls zu sanktionieren. Das hat eine quantitative als auch qualitative Einschränkung zur Folge gehabt: quantitativ, da nur die als pathologisch definierten Zustände Teile einer Behandlung sein konnten und sich damit die Zahl der behandlungsbedürftigen Individuen stark eingrenzte; qualitativ, da das Resultat der Umwandlungsarbeit stets nur eine Rückkehr zu einem als normal definierten Zustand sein konnte. Dieser Zyklus der Reparatur kann dadurch ergänzt werden, indem die Arbeit am Pathologischen sich zur Arbeit an der Normalität verschiebt: man könnte von einem psychischen Wachstumsmodell (growth), dem Lieblingsbegriff der sogenannten Humanistischen Psychologie, sprechen. D.h. nun nicht, daß die klassische Internierung bestimmter Gruppen vonMenschen überflüssig wird. Aber sie wird mehr und mehr durch neue Formen von Institutionen, präventiver Eingriffe und therapeutischer Interventionen ergänzt. Sozialarbeiter, Pädagogen, Arbeitgeber, Richter, Polizeibeamte - alle verwalten eine Parzelle sozialer Macht. War und ist die geschlossene Anstalt durch ihre totale Abgrenzung von der Außenwelt die schärfste Objektivierung der sozialen Machtbeziehung: Autorität-Zwang, so definieren sich die neuen Machtformen mehr durch: Überzeugung-Manipulation. Man kann hier von einer tatsächlichen Metamorphose der Politik der „geistigen Gesundheit" sprechen, die alle wesentlichen Elemente verwandelt: den theoretischen Code (Krankheitsbilder), die Eingriffstechnologie (das therapeutische Setting), das institutionelle Netz, das Heer der Fachleute und den Benutzerstatus.
Vom Paradigma der Internierung zum allgemeinen Interventionismus, vom harten Paternalismus zur symbolischen Gewalt der Interpretation. Das gute Gewissen der Experten wird durch diese Transformation nur bestärkt: in diesem Diskurs konvergiert die Psychiatrie immer mehr auf ihre wahre therapeutische Berufung zu, das psychoanalytisch erzeugte Unbewußte eröffnet einen Schauplatz jenseits sozialer oder politischer Konventionen, die Medizin wird zur selbstlosen Technik, die objektive Probleme behandelt. Dieser Diskurs erweitert nur den Interventionsraum des Experten. Verständlicherweise hat dieser ein Interesse, ihn nicht nur zu erhalten sondern auszudehnen. Unter dem Schutzschirm der Kompetenz wird also zunehmend überwacht, beurteilt, ausgewählt und normalisiert. Und das alles selbstverständlich im Namen der Heilung und Prävention.
Wenn wir nochmals auf den eingangs zitierten Satz Foucaults zurückkommen, könnte man sagen: die Seele ist der allgegenwärtige und allzeit bereite Ansatzpunkt für eine ins Grenzenlose gehende Fürsorge, für einen wachsenden Apparat an Kontrolle und der Dienstleistungen an Psyche, Intimität und Sexualität. Wenn aber die Selbsterkenntnis von der Selbstunterwerfung nicht zu trennen ist, dann läßt sich die Psychiatrie (oder allgemeiner: die Psychotechnologie) als eine Wahrheitsproduktion bestimmen, die für die Umstrukturierung der Gesellschaft zur Disziplinargesellschaft in dem Maße entscheidend ist, wie ihre Diskurse, vermittelt über „die Seele" in das Lebenssubstrat der Individuen eingreifen. (hier trifft sich die Psychologie mit den modernen Bio- und Gentechnologien; im Wunsch, das Leben zu verwalten, zu besetzen und produktiv zu machen). Kurz: die Psychiatrie ist Teil einer politischen Technologie.
Vielleicht müßte man folglich, wie es David Cooper fordert, eine Nicht-Psychiatrie erfinden. Ihr Ziel ist weiter als das der Antipsychiatrie gefaßt: es geht uns, so Cooper in „Die Sprache der Verrücktheit", „um die Abschaffung aller Psycho-Technologie und dies ist ein umfangreicheres Problem als die Abschaffung der psychiatrischen Institutionen in und außerhalb der Kliniken." Ich weiß nicht, ob man so weit gehen kann oder muß aber eines ist sicher: darauf verzichten, heilen zu wollen, war noch nie ein Verbrechen.

Impressum